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Warum weiche Männerbäuche heißer als ein Sixpack sind

Sebastian Goddemeier

„Der Versuch, einen ‚Traumkörper‘ zu erreichen, führt oft zu Unzufriedenheit, Stress, Verzweiflung und einem negativen Selbstbild,“ sagt eine Forscherin.

Wenn ich möglichst muskulös und dünn bin, dann werde ich glücklich sein. Das war einer meiner Glaubenssätze, seitdem ich 15 oder 16 war. Vom einst dicken Kind mauserte ich mich zum dünnen Teenager und schließlich zum durchtrainierten Erwachsenen mit Sixpack. Der Preis: Ich ging täglich zum Sport, manchmal sogar zweimal, und hatte einen Personal Trainer, der mich fit machte, und müde. Ich sah gut aus, aber ich war nicht glücklich. Ich dachte immer noch, ich sei zu dick.

 

Damals modelte ich und wollte unbedingt sein wie die anderen Jungs, die ich auf Instagram und in Zeitschriften sah. Das war mein Ideal. Bis ich Joseph Wolfgang Ohlert und Jack Strify entdeckte. Der eine mit Knautschbauch, der andere zwar dünn, aber muskellos statt muskulös.

 

Auf Instagram grüßen mich bis heute die Sixpack-Boys von damals. Weiße Zähne, blonde Gel-Haare, durchtrainierte Körper. Diese Jungs scheinen Follower anzuziehen wie die Berliner-U-Bahn talentlose Musiker – nicht selten haben sie Abonnenten im sechsstelligen Bereich. Doch wer ein Stereotyp ist, ist eben auch austauschbar.

 

Es hat eine Zeit gebraucht, meinen Körper zu aktzeptieren. Ich fühle mich immer noch icht ganz wohl…

 

Also suchte ich nach Persönlichkeiten, mit denen ich mich identifizieren kann, statt sie zu idealisieren – und stieß auf Fotograf Joseph Wolfgang Ohlert. Der Berliner schreibt unter einem Post, auf dem er seine Bauchfalten hält: “Es hat einige Zeit gebraucht, meinen Körper zu akzeptieren. Ich fühle mich immer noch nicht ganz wohl…”. Aber ich denk: Gott, ist der hot, und browse durch sein Profil. Kein Sixpack, dafür dunkle Haare, ein schönes Gesicht. Joseph schreibt von seiner Depression, dass er Probleme hat, dass sein Gewicht schwankt. Er ist echt und ehrlich.

 

Später finde ich Musiker und Influencer Jack Strify. Der Berliner ist queer und steht ebenfalls zu seinem Körper, wie er ist. Auf einem seiner Posts ist er im Badezimmer in Unterwäsche zu sehen. Etwas, das ich mich nie trauen würde. Sein Bauch ist dünn, aber weich. Ich hake nach. „Oft hatte ich den Gedanken dabei, dass ich es wieder löschen werde. Aber bis jetzt habe ich das doch nie gemacht. Ich habe keine Lust mehr, meinen Bauch zu verstecken, weil er nicht gefallen könnte“, sagt Strify auf meine Nachfrage.

 

Über Essstörungen und Gewichtsdruck bei Männern wird selten gesprochen. Ich leide darunter bis heute: Wieso üben Sixpacks Druck auf mich aus? Es sind nur Muskeln an dem Bauch eines Fremden. Fehlt es mir an Vorbildern wie Strify?

 

Antworten finde ich bei Anke Kleim. Sie forscht zum Thema „Body Image„ und ist deutsche Botschafterin des australischen „Body Image Movements„. Sie sagt: „Im westlichen Raum arbeiten wir sprachlich mit Gegensätzen: dick und dünn, alt oder jung oder groß und klein. Häufig ist diesen Begriffen eine emotionale Bedeutung zugeordnet und sie werden mit ‘gut’ oder ‘schlecht’ assoziiert.“ Diese Äußerlichkeiten werden mit den Eigenschaften des Charakters verknüpft. „Eine schlanke Person wird in Zeiten des Überflusskonsums zum Beispiel als besonders selbstdiszipliniert angesehen. Muskeln dagegen gelten als Symbole für persönliche Stärke, Kraft, Maskulinität, Durchsetzungsvermögen und Macht.“ Macht, Stärke, Kraft! Das ist es, was die Kollegah-Klone in den Pump-Höhlen der Republik wollen. Aber gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen Geist und Körper – oder ist das ein Trugschluss?

 

Für Frauen war das Äußere oft das einzige Mittel, um einen gesellschaftlichen Stand zu erreichen, so Kleim. Das mag auch einer der Gründe sein, wieso im Bezug auf Frauen oft über Gewichtsdruck diskutiert wird – bei Männern jedoch nicht. „Lange Zeit spielten diese Äußerlichkeiten für Männer eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Da Männer diejenigen waren, die in der Gesellschaft die Entscheidungen trafen und alle wichtigen Ämter innehatten, erfuhren sie mehr oder weniger automatisch eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung durch ihre erbrachten Leistungen.“ Ganz im Gegensatz zu Frauen, erklärt Kleim.

 

Heute, 2020, mit fortschreitender Emanzipation und einem flexibleren Rollenverständnis, müssen sich Männer andere Wege suchen, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden, erklärt Kleim. Einer der Wege führt, Überraschung!, über das Äußere. Der Mann benutzt die veralteten Wege der Frau, um gesellschaftlichen Status zu erlangen: Das Sixpack. „Das wird häufig als eine Erklärung dafür angesehen, weshalb Männer empfänglicher dafür geworden sind, ein Idealbild zu verkörpern.“ Wirtschaftlich macht das alles Sinn: „Unternehmen haben sich das zu Nutzen gemacht, denn, wie wir leider von Frauen wissen, kann man mit der Sehnsucht nach einem perfekten Aussehen und der Unzufriedenheit mit sich selbst jede Menge Geld verdienen.“

 

Es stellt sich heraus, dass Jack Strify, der heute seinen behaarten, weichen Bauch auf Instagram zeigt, ein ähnliches Problem hatte wie ich selbst: Er war mit seinem Körper nicht zufrieden. „Ich kam als einer der ersten in meiner Klasse in die Pubertät und alle haben sich über meine ersten Achselhaare lustig gemacht. Wenn ich Urlaubsbilder anschaue, sehe ich heute einen ziemlichen dünnen Jungen, der sich sich aber immer als zu dick wahrgenommen hat.“ Aber nicht nur das.

 

Statt seinen Körper zu akzeptieren, wie er ist, hat Strify sich Vorbilder in der japanischen Popkultur gesucht. Er war begeistert vom Anime, welcher ein Idealbild von haarlosen Körpern und langen Beinen vermittelt. Außerdem fühlte sich Strify schon immer androgyn. „Als ich dann breite Schultern und mehr Körperbehaarung bekam, habe ich weiter meinen Körper verflucht. Ich habe gehungert und mich rasiert, auch an den Armen, obwohl ich sehr empfindliche Haut habe. Einmal hatte ich sogar eine Hautinfektion, da ich es ignoriert habe.“ Strifys Geschichte zeigt, was ein verzerrtes Bild von sich bringen kann: Selbsthass und Unsicherheiten, die nur sehr schwer zu überwinden sind.

 

Dieses Idealbild, an das ich auch lange glaubte, ist sehr ungesund, erklärt die Expertin. „Der Versuch, einen solchen vermeintlichen ‘Traumkörper’ zu erreichen oder sich mit Idealen zu vergleichen, führt oft zu Unzufriedenheit, Stress, Verzweiflung und einem negativen Selbstbild.“ Wir sehen ein Ideal, das andere ganz einfach erreichen zu scheinen – auf Instagram zum Beispiel. Darauf folgt die Frage: Wenn so viele Männer so aussehen, wieso sehe ich dann nicht so aus? Wieso klappt es nicht? „Wir haben das Gefühl, gescheitert zu sein oder versagt zu haben, obwohl der Fehler gar nicht bei uns liegt. Doch durch die allgemeine Annahme, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur hart genug versucht, nehmen wir die volle Verantwortung auf uns und fühlen uns schlecht.“

 

Dieses idealisierte Bild des männlichen Körpers bringt aber noch ein Problem mit sich: „Fälschlicherweise wird gutes Aussehen leider oftmals mit Gesundheit gleichgesetzt. Das kann absolut fatal sein, da dadurch übersehen werden kann, dass ein Mensch Hilfe braucht.“ Wer sich besonders hart im Gym quält, ist nicht gleich selbstbewusst – er kann auch sehr unsicher sein, von Selbstzweifeln getrieben, um jeden Preis einem Ideal zu entsprechen. Viele Studien belegen, dass die sozialen Medien uns noch tiefer in die Zweifel treiben: „Sind wir primär idealisierten Bildern ausgesetzt, heißt Fotos, die retuschiert oder gefiltert wurden, dann ist das Risiko, dass wir uns mit diesen vergleichen und anschließend minderwertiger und unattraktiver fühlen, groß.“

 

Es ist also umso wichtiger, sich ein Leitbild auszusuchen, das der Realität entspricht und dem eigenen Körper näher kommt, um ein wirklich positives Gefühl zu erzeugen. Dieses Gefühl, denke ich, entsteht eher über Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Gemeinsamkeiten, die ich bei Joseph und Jack finde.

 

Obwohl Strify mittlerweile ein gesünderes Selbstbild hat, als noch als Teenager, hat er auch heute noch seine Probleme: „Manchmal struggle ich mit meinem Gewicht, aber habe mich sonst von vielem frei machen können, da ich nicht mehr in den Spiegel schauen und mich schlecht fühlen will. Ich will mir das einfach selbst nicht mehr antun.“ Wenn heute jemand sein Aussehen unter einem Bild auf Instagram kritisiert, geht er den anderen Weg: Statt an sich selbst zu zweifeln, sagt er sich, dass er gut ist, wie er ist. Strify mag seine Haare mittlerweile.

 

Viele halten Body-Image für ein Thema, das ausschließlich Mädchen betrifft.

 

Was Strify beschreibt, ist eine Bewegung in der Gesellschaft geworden, die immer weiter wächst. Eine positive Entwicklung, findet Anke Kleim. Im Bezug auf Social Media empfiehlt sie, Accounts zu entfolgen, die einem ein schlechtes Gefühl geben und stattdessen Menschen zu folgen, die Body Positivity unterstützen. Auch Männer. „Viele halten Body Image für ein Thema, das ausschließlich Mädchen betrifft.“ Viele könnten sich gar nicht vorstellen, dass es Essstörungen auch bei Männern gibt. „Das ist ein Zeichen eines sehr tief verwurzelten gesellschaftlichen Stigmas gegenüber Männern.“ Ein Stigma, das in dem Glauben ruhen mag, dass es zum Männerbild gehört: Männer müssen stark sein, Muskeln stehen für Stärke.

 

Popstars wie Lizzo, die zu ihren Kurven stehen, sind die Gesichter einer Body-Positivity-Bewegung, die das Bild der dünnen=schönen Frau auf den Kopf stellt. Es wird sicher noch etwas dauern, bis auch Männer dort angelangen. „Es ist toll, dass wir in einer Zeit leben, in der Ideale hinterfragt werden, in der es ein großes Body-Positivity-Movement gibt, Fatphobia ein Begriff ist. So sehr Social Media auch manche Ideale zu verstärken scheint, liebe ich die Netzwerke dafür, dass sie so vielen eine Stimme geben, die lange nicht gehört wurden“, findet Jack Strify. Dadurch finde man Menschen, mit denen man sich leichter identifizieren kann, auch wenn Mainstream-Ideale ebenfalls vorhanden sind.

 

Extreme vermeiden, den eigenen Körper akzeptieren, Sport treiben, auch mal gesund essen, aber nicht zu streng zu sich sein – das ist laut Anke J. Kleim der Schlüssel zu einem gesunden Körpergefühl.

 

Der Mensch vergleicht, das liegt in seiner Natur, denke ich und bin froh, dass es mittlerweile Vorbilder wie Jack Strify und Joseph Wolfgang Ohlert gibt. Ich hätte mir solche Vorbilder in meiner Jugend gewünscht.

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