Venus in Furs
Patsy l'Amour laLove
Sowas wie eine Lederszene gab es noch nicht, als Manfred Stavenhage seinen Lederfetisch entdeckte. 1960 verschlug es ihn mit 16 Jahren in den Laden eines Münchner Lederaussatters, der in ihm „sofort“ einen Lederfetischisten erkannte und ihn mit anderen vernetzte. Manfred kaufte dort seine erste Lederjacke und deponierte sie auch gleich im Laden, um sie vor seiner Zeugen-Jehovas-Familie zu verstecken. Mit seinen neuen schwulen Bekanntschaften dieser Zeit besuchte er regelmäßig nach der strengen Sperrstunde die Kneipe Ochsengarten, wo die Wirtin Auguste Wirsing ihre Gäste durch die Hintertür einließ. „Sie wollte unbedingt eine schwule Kneipe machen, weil ihr bestes Sexualerlebnis mit einem schwulen Mann war“, erinnert sich Manfred. Frau Wirsing konnte dafür erwärmt werden, aus dem Ochsengarten mittels Second-Hand-Stiefeln als Dekoration eine Lederbar zu machen – eine der erfolgreichsten: Später beliebt bei Freddy Mercury und Barbara Valentin.
Auch in der schwulen Entwicklung von Olaf Hatmannsgruber und Thomas von Stein spielte die legendäre Münchener Lederbar Ochsengarten eine Rolle: Nach eindrücklichen TV-Erlebnissen mit dem schwulen Filmklassiker „Cruising“ (1980) und dem Lederkerl der Village People fand Olaf hier ab 1984 erste Kontakte zur schwulen Lederszene. Nach einer Zeit der eher distanzierten Beobachtung traute er sich auch seinen ersten „Ledersex“ zu haben: „Du probierst das und von da an kannst du starten. Ich nehme allen Mut zusammen, steh quasi auf dem Dreimeterbrett, und jetzt spring ich!“
Auch Thomas erinnert sich, schon in der Kindheit von Leder fasziniert gewesen zu sein: ihn begeisterten bayrische Männer in Motorradkluft und Piraten. Mit seinem Einsteig in die Lederszene in den 90ern hatte er also eine klare Agenda: Er wollte eben solche „stiernackigen“ Männer treffen und nicht den „typischen Schwulen“ mit Föntolle und rosa Polohemd, der in der Fetischbar Ochsengarten laut Dresscode ohnehin keinen Zutritt hatte.
Schwanensee mit den vier Schwänen von Herren getanzt. Das sah geil aus.
Dennoch ging es in der Lederszene schon damals tuntig zu. Manfred, der übrigens Teil des ersten deutschen Ledertreffens war, den Münchener Fetisch-Verein „Löwenclub“ gründete und betrieb, die lange die nach seinem Spitznamen benannte, Lederbar „Zum Lohengrin“ und war daneben Requisiteur an der Münchener Staatsoper. Seiner Erinnerung nach kamen fast alle Ledermänner der 1970er irgendwie vom Theater. Die Treffen der Ledervereine wurden häufig von aufwendigen Shows gekrönt, von denen er berichtet: „Schwanensee mit den vier Schwänen von Herren getanzt. Das sah geil aus.“
Dennoch kann man nicht von der Hand weisen, dass das vorherrschende Männlichkeitsbild in der Lederszene ein martialisches war und bis heute ist – vor allem im Kontrast zur eher lauten und tuntigen Schwulenbewegung. Nicht nur sexuelle Vorlieben spielten dabei eine Rolle, sondern auch ein gewisser Schutz vor direkten homofeindlichen Konfrontationen: Die „Charade“ der Männlichkeit, die Olaf als Zweigleisigkeit der Lederszene ausführt, diente dazu, einerseits als Schwuler in Leder erkennbar zu sein – andererseits für die meisten Menschen im heterosexuellen Mainstream wie ein harter Rocker oder Biker rüberzukommen. Auch die Ledervereine agierten eher versteckt, wie ein Blick auf die Namen verrät. Das „Löwen“ im Münchner Löwenclub verweist auf „Leder“, der US-Verband „Cycle MC“ täuschte quasi einen Motorradclub vor. Damit streute man den Leuten Sand in die Augen, wie Manfred es ausdrückt.
Die USA und insbesondere San Francisco waren mitunter deutlich freier im Umgang mit dem unter Schwulen beliebten Fetisch. Ab 1987 erlebte Olaf eben dort eine ganz andere Freiheit: Schwule Lederkerle in der Öffentlichkeit gehörten hier zum Alltag und boten eine Community, in der er sich entfalten konnte – obwohl die späten 80er-Jahre gerade in der Lederszene eine äußerst schwierige Phase einläuteten.
Im Laufe des Jahrzehnts, ab 1986 ganz gewaltig, wie sich Manfred erinnert, erschütterte Aids die Lederszene. Schon Mitte der 80er mietete Manfred in München ein Kino an, um mit Hilfe von Filmlegende Manfred Salzgeber kostenlos einen Aufklärungsfilm zum Thema zeigen zu können: „Einige haben sich aufgeregt, wie man so eine Scheiße zeigen könne. Die haben die Gefahr damals einfach nicht erkannt.“ 1987 verlor er seinen damaligen Partner an Aids – bei weitem nicht der einzige Verlust in seinem Umfeld. Bei der Zahl 200 habe er aufgehört zu zählen, als er einmal versucht habe, die verstorbenen Bekannten und Freunde zu beziffern. „Meine Generation – die sind fast alle ausgestorben. Aids hat einfach sehr viel kaputt gemacht.“ Auch die Leder-Infrastruktur. „Heute gibt es vielleicht noch zwei Lederbars in Berlin“, stellt Manfred fest, der mittelweile, wie auch Olaf und Thomas, in der Hauptstadt wohnt. Wenngleich auch er einräumt, dass auch das Internet dazu beigetragen habe.
Thomas von Stein war früher ebenso regelmäßiger Gast auf Beerdigungen von Freunden. Aids dominierte die schwule Szene in den 80ern und 90ern und die besondere „Kameradschaftlichkeit“ in der Leder-Community stellte der Verunsicherung und Trauer ein Gefühl von Schutz gegenüber, erinnert sich Thomas – auch wenn er dem Begriff „Kameradschaft“ heute kritisch gegenübersteht. Seine erste Beziehung zerbrach dann auch am Thema Safer Sex. Ein zentraler Streitpunkt unter Schwulen jener Zeit. Gerade Ledermänner wurden für viele zu Aids-Zeiten zum Sinnbild harter Sexorgien – und damit zur personifizierten Gefahr. Ein Vorurteil, denn Thomas erinnert sich daran, dass die ritualisierten Spielarten in der Lederszene eigentlich häufig bereits Safer Sex waren. Ohnehin ermöglicht die Lederszene einen offenen Raum, um Sexualität abseits des Mainstreams zu erforschen. Thomas erzählt, dass er durch Leder vielfältige sexuelle Erfahrungen gemacht habe, etwa das Erlernen der Master-Rolle.
Doch was hat es eigentlich generell mit dem Material auf sich? Thomas, Olaf und Manfred berichten alle von frühen Erinnerungen an ihre Faszination: Akustik, Geruch – und das Gefühl einer zweiten Haut. Hinzu kommt das Unterstreichen eines männlichen Eindrucks durch schwarzes Leder. „Tuntiges Schlurfen“ sei in Lederuniform nicht möglich, konstatiert Thomas. Das getragene schwarze Leder – mit all seinen sensorischen Eigenschaften – verleiht demnach dem Träger eine Männlichkeit, die, wie ebenfalls alle drei betonen, durchaus übertrieben bis hin zur Hypermaskulinität daherkommt.
Das Lederoutfit ist also eine Travestie der Männlichkeit, die tatsächlich auch wirksame Illusionen erzeugen kann. Nicht die einzelnen Bestandteile sind es, sondern, wie diese als Ganzes vom Ledermann, der durch sie zu einem solchen wird, getragen werden. Der Lederfetisch drängt dabei unter anderem den „Fetisch Jugend teilweise in den Hintergrund“, wie Martin Dannecker in „Sexualität und Gesellschaft“ schreibt. Dennoch wird auch hier ein Jüngerer, der über einen Körper entsprechend der vorherrschenden Schönheitsideale verfügt und dazu noch Lederfetischist ist, in der Szene „zum Abgott des Begehrens“. Damit sei der schwule Jugendkult doch nicht ganz ausgehebelt. So musste Manfred sogar in der Vergangenheit die Erfahrung machen, dass ihm in Berliner Lederbars aufgrund seines Alters der Zutritt verwehrt wurde: „Das war immer mein Leben, warum soll ich jetzt sagen, ich bleibe zuhause? Die müssen ertragen, auch Alte zu sehen. Sie müssen ja nicht mit mir bumsen.“ Dennoch sind Thomas und Olaf der Überzeugung, dass man gerade in der Lederszene auch im Alter „reüssieren“ kann: „Ich glaube, dass es sehr angenehm ist, als Ledermann alt zu werden“, erklärt Olaf. Das Lederoutfit unterstreiche das Männliche und rücke auch einen Bauchansatz in den Hintergrund, findet Thomas. Der Schönheitskult scheint ein Stück weit ausgehebelt, doch, so betont er zugleich, herrsche bei vielen Lederschwulen eben das Idealbild der bereits erwähnten knallharten Männlichkeit.
In den 70er-Jahren attestierten einige Polittunten den Ledermännern wegen dieses Männlichkeitskults eine Nähe zum Faschismus – und protestierten strickend vor dem Darkroom in der Westberliner Lederbar Knolle. Thomas sieht in dieser Ledermännlichkeit demgegenüber auch einen Umgang mit schwulen Geschlechterrollen: „Was man so als schwuler Mann mitkriegt an Unsicherheiten und Zweifeln an der eigenen Männlichkeit – das ist mit Leder weg.“ Auch wenn die Vorwürfe der Tunten in den 70ern vielleicht zu vereinfachend waren, so finden Manfred, Thomas und Olaf eine gewisse kritische Distanz durchaus angebracht: Ledermännlichkeit sei zwar gerade geil, weil sie so überproportional auftritt, dieses Ideal kann aber – wenn es ernst genommen wird – auch zum Problem werden. „Perversität ist das Salz in der Suppe und du musst aufpassen, dass du deine Suppe nicht übersalzt“, meint Manfred. Dieses Problem betrifft aber vor allem starre Männlichkeitsbilder, und weniger die Perversionen oder die Attraktivität von Männlichkeit in Ledertravestie.
Doch neben allen Fragen nach Männlichkeitsbildern und Material darf auch der Aspekt der Gemeinschaft im Kontext der Lederszene nicht unterschätzt werden. Thomas, Olaf und Manfred berichten alle vor allem von Kontakten und Reisen in die USA. Die internationale und bundesweite Lederszene prägt seit Jahrzehnten ihr Leben. Olaf erinnert sich gerne an eine riesige Mister-Leather-Wahl in Chicago. Das beeindruckende für ihn sind, neben dem Sex, die reichhaltigen Charaktere in der Szene. Daher lädt er auf seiner Webseite Male.Space auch zu Veranstaltungen, die nicht nur „die sexuelle Ecke“ beleuchten: So etwa sein Lederdinner, bei dem er mit Ledermännern im Mainstream-Restaurant öffentlich „provozieren“ und zugleich zu größerer Akzeptanz finden möchte. Für Thomas wiederum haben die Lederevents in den letzten Jahren den sexuellen Drive zu sehr verloren: „Früher ging es auch darum, da Sex zu haben und jetzt habe ich oft das Gefühl, es geht darum, wer das neueste Modell und die schickste Uniform hat.“
Diese Oberflächlichkeit moniert auch Manfred, wobei er wie die beiden anderen feststellt, dass es heute unter Schwulen mehr um Fetische in Variation gehe, während noch bis in die 90er-Jahre Leder eine recht dominante Rolle als schwuler Fetisch innehatte. Das merke man beispielsweise an dem aktuell beliebten Puppy-Fetisch, den die drei traditionellen Lederkerle eher mit wohlwollender Distanz beobachten. Zwar organisiert Olaf „Crossover“-Events, bei denen teilweise auch Frauen und Leute im Casual Outfit kommen dürfen, doch möchte er auf der anderen Seite an einem Lederabend echte Lederoutfits und eben keine modischen Party-Harnesse sehen.
Auch die Lederszene benötigt demnach mitunter Grenzziehungen, was denn nun zum Lederfetisch gehört – und was eben nicht. Mit Blick auf die vielen sehr aktiven Ledervereine ab den 70ern oder in Bezug auf die Frage nach zu viel oder zu wenig Sex in der Szene, rückt hier die Frage in den Mittelpunkt, ob sich die Lederszene nun um einen sexuellen Fetisch oder um eine Identität gruppiert. Selbstverständlich ist eine spannungsgeladene Beziehung der beiden die Antwort. Von dieser sind nicht zuletzt die frühen Erinnerungen an die Lederfaszination getragen, die jenen an frühes schwules Begehren nahezu gleichen. Und mit diesem Spannungsfeld aus Fetisch und Identität als Motor sind auch die Ledergruppen und ihre Szene entstanden, die über eine diffus sexuelle Aufladung hinaus dem Besonderen am Leder frönen. Wenn auch der Männlichkeitskult in zunehmender Aufweichung begriffen ist, was Thomas ausführt und begrüßt, braucht die Lederszene das anziehende Stereotyp des Ledermanns, das sie selbst aufgebaut hat und das immer neue Bewunderer findet. Den Änderungen in der Szene indes sieht Manfred gelassen entgegen: „Das Leben verändert sich immer und keiner kann sagen, dass nur sein Weg der richtige ist.“
Dieser Text erschien ursprünglich in SIEGESSÄULE 04/20, LINK: https://www.siegessaeule.de/
Foto: Spyros Rennt
Foto: Spyros Rennt