Körperliche Intimität im Zusammenhang mit Chemsex

Mein Weg im Chemsex: Einbahnstraße in den Sonnenuntergang

Chemsex war für Karl Anton Gerber für eine kurze, aber sehr intensive Zeit ein wichtiger Bestandteil seiner Sexualität. Den Ausstieg aus dem Konsum schaffte er auch mit Hilfe des Buches „Lust, Men, and Meth“ von David Fawcett. Von dem Buch war er so begeistert, dass er es ins Deutsche übersetzt hat. Für unseren Blog hat Jörn Valldorf mit ihm gesprochen.

 

Wie sah Dein Sexleben aus, bevor Du mit Chemsex angefangen hast?

Karl-Anton Gerber: Mein Wunsch nach einer festen Beziehung ist Zeit meines Lebens nicht in Erfüllung gegangen und so war ich nie ein Kind von Traurigkeit. Und gemessen an dem, was ich im Rausch getan habe, ist es vorher nicht über „Blümchensex“ hinausgegangen. Der spätere Konsumsex war dann hemmungslos, es war Sex um des Sexes willen. Ganz egal mit wem. Hauptsache es war jemand da. Das war vorher schon anders. Da habe ich sehr darauf geachtet, mit wem ich Sex hatte.

Erinnerst Du Dich, wie Du mit Chemsex in Berührung gekommen bist?

KAG: Das erste Mal bot man mir so etwa 2012 „Tina“ (Szenename für Crystal Meth; die Red.) an. Das war lange vor meinem ersten Konsum. Der Typ, der mir das angeboten hat, konnte mir aber nicht richtig erklären, was das eigentlich ist und wie es wirkt. Deshalb habe ich abgelehnt. Am nächsten Tag musste ich dann googeln, was das ist. Ich war echt ahnungslos. Gleichzeitig habe ich zu der Zeit bei RTL-NITRO gearbeitet und wir hatten die Serie „Breaking Bad“ im Programm – als ich das gesehen hatte, war mir klar: Crystal geht überhaupt nicht.

Magst Du erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass Du doch konsumiert hast?

KAG: Mein erster Konsum war mit einem Typen Anfang 20, wahnsinnig durchtrainiert, irgendwie echt Porno der Typ. Wir kannten uns durch verschiedene Gruppenpartys und ich wusste auch, dass er konsumiert. Und irgendwann hatte ich diesen rattenscharfen Kerl auf einmal für mich allein. Dazu kam, dass ich gerade wieder Single war, mit meinem Job lief es nicht rund und auch er war down, hatte Liebeskummer. Dann ist etwas passiert, was mir erst im Nachgang richtig klargeworden ist. Ich dachte: Mensch, mit dem Typ war der Sex richtig geil, wenn wir das jetzt noch steigern können und gemeinsam durch das Konsumieren auf eine Wellenlänge kommen, dann werden wir auch gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten. Der alte Traum war wieder da: Beziehung, heiraten, Kinderkriegen. Ich hatte mit Crystal Meth also meine Droge gefunden. und hatte auch gleich ein craving danach (craving für „unwiderstehliches Verlangen“; die Redaktion).

Wie ging es dann weiter?

KAG: Das ging erst nicht so schnell, denn ich habe schon gemerkt, dass da was ganz Heftiges mit mir passiert ist. Der nächste Chemsex war dann auch erst drei Monate später. Das war nach einer Hochzeit von Freunden. Die war super romantisch inszeniert, es war wahnsinnig kitschig und alle waren so herzlich und liebevoll miteinander. Als ich die Party dann verließ, war ich angetrunken und sehr melancholisch. Zuhause habe ich dann die „blauen Seiten“ aufgemacht und wollte eigentlich was fürs Herz finden.

Fürs Herz?

KAG: Nein, natürlich fürs Bett. Aber der Hintergedanke war immer, dass irgendwann der Richtige dabei ist. Bei dieser Suche bin ich dann auf einen Typen gestoßen, der selbst sagte, er sei schon seit drei Tagen „druff“ und hätte noch was da. Ich habe mich dann mit ihm getroffen, wurde nach einer halben Stunde aber wieder rausgeschmissen.

Wieso?

KAG: Ich war in meiner Melancholie sehr kuschelig und hatte das Gefühl, er würde auch eher Nähe als Sex brauchen. Der wollte aber nur derb genommen werden, was bei mir aber nicht mehr funktioniert hat. Ich hatte vorher eine Phase mit Amphetaminen und bin darüber auf Androskat (Medikament zur Erektionshilfe; die Red.) gekommen, weil die blauen Pillen nicht mehr wirkten, und hatte mir bei meinem zweiten Versuch gleich einen Priapismus gespritzt.

Das ist eine Dauererektion, oder?

KAG: Ja, das habe ich damals aber nicht sofort begriffen und bin erst 28 Stunden später in die Klinik gegangen und das wäre fast zu spät gewesen. Im Ergebnis sah dann mein Schwanz so lädiert aus, dass ich ihn anderen nicht mehr zumuten mochte. Ich kann von Glück sagen, das heute wieder alles funktioniert und ich keine Prothese brauche.

Das hat Dich aber nicht davon abgehalten, weiter Chems zu benutzen?

KAG: Nein. Ich hatte damals mit Freunden darüber gesprochen. Die haben mir geraten, einen Callboy zu suchen. Der würde mich wegen meines lädierten Schwanzes sicher nicht abweisen. Verheilt war ja alles, aber die Narben waren sichtbar. Ich hatte dann auch einen gefunden, mit dem es sich wieder so warm und kuschelig anfühlte. Plötzlich sagte er, dass er noch was dabeihätte und fragte, ob wir was rauchen wollten.

Und mit rauchen meinst Du kein Gras?

KAG: Nein, damit meine ich immer Crystal Meth. Ich muss aber sagen, und darüber bin ich heilfroh, ich habe Crystal immer nur geraucht und nicht intravenös genutzt. Irgendwann ging es mir dann auf die Stimme und ich habe es rektal genutzt.

Kannst Du beschreiben, ab wann Du Sex nur noch mit Substanzen hattest?

KAG: Das fing mit diesem Callboy an, mit dem ich dann eine Affäre hatte. Ich musste für den Sex nicht mehr bezahlen, habe aber dafür gesorgt, dass immer genug Stoff da war. Anfangs haben wir das auch nur am Wochenende genommen. Irgendwann kam er an einem Mittwoch und meinte: Lass uns was nehmen. Ich habe zunächst abgelehnt, da ich am nächsten Tag einen wahnsinnig wichtigen Termin im Büro hatte. Aber wir haben es dann doch genommen und erstaunlicherweise hat auch der Termin irgendwie noch funktioniert. Damit war aber die „Wochenendregel“ gefallen, und ich habe auch während der Woche beim Sex konsumiert.

Von da an ist dein Konsum gestiegen?

KAG: Ja, und das Irre war, es fiel scheinbar keinem auf. Weder den Arbeitskolleg*innen noch meinen Freunden. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass ich nur eine sehr kurze Zeit wirklich dauerhaft konsumiert habe –  von September 2019 bis zum März 2020.

Hättest Du Dir mehr Unterstützung deiner Freund*innen gewünscht?

KAG: Sie hätten mir gar nicht helfen können, denn mein Konsum fand in einem Paralleluniversum statt. Nach Außen war ich der „erfolgreiche Spießer“ mit Abo in der Philharmonie, der im katholischen Chor sang. Und gleichzeitig lebte ich im Konsumuniversum, das immer mehr Raum einnahm und auch schon gerne Donnerstagabend losging.

Wie hat sich Dein Sex dadurch verändert?

KAG: Auch das kam schleichend. Anfangs war ich auch noch auf Nähe und Verbindung gepolt. Aber das hat sich verändert. Anfangs, als ich noch aktiv war, immer wieder mit der Hilfe von Androskat, ging es noch; aber irgendwann war ich nur noch passiv und bin sehr rüde mit meinen Partnern umgegangen. Ich wollte Schwänze und Sperma. Je mehr, desto besser und wenn einer nicht abspritzen konnte, habe ich ihn stehenlassen.

Du hast schon gesagt, dass Du nur sechs Monate wirklich dauerhaft konsumiert hast. Wieso hast du aufgehört?

KAG: Es wurde immer unbefriedigender. Den Wendepunkt brachte dann ein Gespräch mit Freunden. Ich hatte ihnen versprochen, sie zu fahren. Obwohl ich in einem Zustand war, in dem ich das nicht hätte tun sollen. Ich bin so dankbar, dass ich keinen Unfall gebaut habe. Am nächsten Tag wollten meine Freunde mit mir reden und konfrontierten mich damit, dass sie mich gestern dreimal fragten, ob ich was konsumiert hätte. Ich hätte dreimal nein gesagt. Ganz ehrlich: Ich konnte mich an nichts erinnern. An gar nichts. Das war der Punkt für mich zu sagen: Schluss. Ich brauche Hilfe. Das ist nicht das Leben, das ich mir für mich vorstelle.

Wo hast Du Hilfe gefunden?

KAG: Ich habe dann die Kraft aufgebracht und bin gleich am Montag zur Selbsthilfegruppe SHALK gegangen. Dort hat man mir dann sehr eindringlich geraten, in eine Klinik zu gehen. Nach langem Hin und Her und nach einem weiteren Rückfall bin ich dann schließlich kurz vor dem ersten Lockdown in einer Privatklinik aufgenommen worden. Und es ist wirklich schwierig, eine gute Klinik zu finden, die diesem Thema wirklich offen gegenübersteht. Ich hatte aber das Glück, einen guten Hausarzt zu haben, der Ahnung vom Thema hatte, und mich in diese Klinik überwiesen hat.

Während der Kur bist Du mit dem Buch von David Fawcett in Berührung gekommen?

KAG: Ja. Aber witzigerweise nicht durch das Therapeut*innen-Team in der Klinik, sondern durch einen anderen Klienten dort. Der hatte lange in London gelebt und hat mir die englische Version empfohlen. Ich habe das Buch dann gelesen und gedacht, über das Buch würde ich gern mit vielen Menschen reden.

Kannst Du einschätzen, wenn Du alle Faktoren zusammennimmst, wieviel Dir bei Deiner Heilung das Buch, die Klinik und die Therapiegespräche geholfen haben?

KAG: Fünfzig-Fünfzig würde ich sagen. Ich bin durch das Buch mit Themen in Berührung gekommen, die in der Klinik nicht angesprochen wurden, auch nicht in der Chemsex-Gruppe. Ich habe beim Lesen viel über mich selbst auch verstanden. Das, was mich am meisten bewegt hat, war die Selbstabwertung, die David Fawcett in seinem Buch anspricht. Konkret auf mich bezogen: meine Selbstabwertung zum einen als schwuler Mann und zum anderen als HIV-positiver schwuler Mann. Ich habe in der Klinik begonnen zu lernen, mit mir als schwuler Mann und all meinen Anteilen wertschätzend umzugehen.

Was, würdest Du sagen, brauchen wir als Community von Ärzt*innen aber auch von uns selbst, um gut mit uns umzugehen – ob mit oder ohne Chems?

KAG: Ärzt*innen brauchen mehr Fachwissen und Verständnis. Und von der sogenannten Community erwarte ich weniger Ausgrenzung, mehr Akzeptanz und mehr Wissen über HIV-Prävention. Jemanden 2023 als Sexualpartner noch abzulehnen, weil er HIV-positiv ist, geht gar nicht.

Magst Du inzwischen Deinen Schwanz wieder?

KAG: Ja, den mag ich wieder!

Flasche im Kontext von Chemsex und Drogen