Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um institutionalisierte Homofeindlichkeit und um Konversionsmaßnahmen.
Ein Dezembernachmittag in Ludwigshafen. Klaus. S. ist auf der Suche nach Sex. Er betritt eine stadtbekannte Klappe am Ludwigplatz. Der Geruch von Urin steigt ihm in die Nase, als er den kleinen Raum betritt. Ihm fällt ein Mann auf. Sieht nett aus, denkt er sich. Die beiden Männer beschließen den kalten Ort gegen die etwas komfortableren Toiletten in einem nahelegenden Kaufhaus einzutauschen. „Das war unser Fehler“, sagt Klaus heute. „Beim Betreten müssen wir beobachtet worden sein, denn kurzer Zeit später stand die Polizei vor der Kabine und hat uns rausgeholt“. Es war das Jahr 1964 und der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, war noch in Kraft. „Wir wurden mit der „Grünen Minna“ aufs Polizeirevier gebracht. Und da ich noch keine 21 (dem damaligen Alter für Volljährigkeit) war, wurde ich nach Hause gebracht, um die Adresse zu kontrollieren“, erzählt der 1947 geborene Ludwigshafener.
Von der Polizei erst aufs Revier und dann nach Hause gebracht…
Auf Verständnis konnte Klaus hier nicht hoffen, ganz im Gegenteil. Der Vater noch im Gedankengut der Nationalsozialist*innen verhaftet, die Mutter eine sehr religiöse Frau. Die Sorge galt den Nachbarn, den Geschwistern, dem Gerede in der Gemeinde. „Sie haben mir eingeschärft, mit niemanden darüber zu sprechen“. Die Hoffnung, dass die Anklage aufgrund seines Alters fallengelassen wird, erfüllt sich nicht. Unzucht mit Männern lautet der Tatvorwurf. Der Prozess wird im Frühjahr 1965 eröffnet. „Ich hatte noch Glück“, berichtet Klaus. „Eine junge Jugendpflegerin hat sich wahnsinnig stark für mich gemacht. Das werde ich ihr nie vergessen“. Seine Strafe: eine psychologische Behandlung zur Umerziehung. Heute würde man es eine Konversionsmaßnahme nennen. Wäre er zu einer Haftstrafe verurteilt worden, wäre auch seine Lehrstelle als technischer Zeichner in Gefahr gewesen. „So ging es noch ganz glimpflich ab“, sagt Klaus.
Seine Strafe: 2 Jahre lang, 1 mal die Woche zum Psychologen
„Von nun an musste ich zwei Jahre einmal die Woche zu einem Psychologen“. Die Gespräche hat er verdrängt. Er erinnert sich nur daran, einen Baum gezeichnet zu haben und an die berühmten Klecksbilder. In Fachkreisen Rorschachtest genannt. „Ich habe aber nur Schwänze gesehen“, lacht Klaus „und habe das dem Psychologen auch gesagt. Der war darüber nicht glücklich“.
Klaus unterdrückt seine Gefühle und sein Begehren. Der Psychologe sieht sich bestätigt und entlässt Klaus als geheilt.
Klaus unterdrückt seine Gefühle und sein Begehren. Er hat Angst wieder erwischt zu werden. Diesmal, das weiß er, würde eine Verurteilung Gefängnis bedeuten. Er schließt sich einer Jugendgruppe an, lernt ein Mädchen kennen. „Ich habe sie wirklich gerne gehabt. Ich war aber froh, dass sie mir keine sexuellen Avancen machte“. Er will sie heiraten, trotz allem. Bevor er sie mit zu seinem Psychologen nimmt, gesteht er ihr alles. „Sie hat sehr verständnisvoll reagiert“. Der Psychologe sieht sich bestätigt, schwurbelt etwas von einer Phase, die alle Jungen durchmachen und entlässt Klaus als geheilt. Vor der Hochzeit vernichtet seine Mutter alle Unterlagen, die ihm irgendwann zum Verhängnis werden könnten.
Brüchiges Glück
Klaus lebt mit seiner Frau in Ludwigshafen, eine Tochter wird geboren. Doch das Glück ist brüchig. Die Sehnsucht nach Sex mit Männern bleibt. Er führt ein Doppelleben, wie so viele in jener Zeit. Die Liebe zu einem Mann, den er kennenlernt, gibt ihm Kraft. Es folgt die Trennung von seiner Frau. Eine schmutzige Scheidung und ein zehn Jahre andauernder Kampf seine Tochter sehen zu dürfen, schließen sich an. Klaus lernt seinen heutigen Mann kennen, lebt mit ihm zusammen. „Wir lebten unauffällig, aber nicht versteckt“.
Wer wurde durch die Paragraphen 175 und 151 kriminalisiert? |
§175 trat 1872, ein Jahr nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches, in Kraft und kriminalisierte „widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts“. 1935 verschärften die Nazis den Paragraphen. Jetzt galten sämtliche Handlungen mit „wolllüstiger Absicht“ als Straftat. Bloßes Berühren konnte bereits belangt werden. Nach dem Krieg blieb der §175 in der Bundesrepublik unverändert in der Nazi-Fassung für mehr als zwei Jahrzehnte bestehen. 1969 wurde er dann ein erstes Mal und 1973 ein zweites Mal entschärft. Nun konnten Männer über 18 Jahre bestraft werden, wenn sie Sex mit unter 18-jährigen Jungen hatten, während das Schutzalter bei Mädchen bei 14 Jahren lag (wobei das Gericht bei Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren von einer Strafe für den Mann absehen konnte, wenn dieser jünger als 21 Jahre alt war.) Der Grund für diese Ungleichbehandlung lag in der homofeindlichen sogennanten „Verführungstheorie“, also der Idee, dass junge Menschen zur Homosexualität „verführt“ werden könnten. In der DDR kehrte man 1950 zur ursprünglichen Fassung des §175 (vor dem Nationalsozialismus) zurück, wobei ab Ende der 50er Jahre kaum noch Menschen nach diesem Paragraphen verurteilt wurde. 1968 führte die DDR dann ein eigenes Strafgesetzbuch ein. In ihm wurde der §151 eingeführt. Dieser kriminalisierte sexuelle Handlungen von allen Menschen mit Jugendlichen unter 18 Jahren des gleichen Geschlechts. Hier wurden also auch lesbische und bisexuelle Frauen kriminalisiert. 1988 wurde §151 ersatzlos gestrichen. Nach einer kurzen Phase der Legalisierung war mit der Wiedervereinigung männliche Homosexualität in Ostdeutschland wieder kriminalisiert, da hier der §175 (auch auf Druck aus dem Osten) erst 1994 gestrichen wurde. Die beiden Paragraphen kriminalisierten im damaligen juristischen Sinne gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen. Aus heutiger Sicht ist aber anzunehmen, dass dadurch nicht nur schwule und bisexuelle cis Männer (bzw. in der DDR auch cis Frauen) kriminalisiert wurden. Vielmehr wurden in der Bundesrepublik alle Menschen kriminalisiert, die bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurden und Sex mit Menschen hatten, die ebenfalls dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurden. Der Paragraph 175 kriminalisierte also zum Beispiel auch trans* Frauen, die Sex mit Menschen hatten, die dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurden. In der DDR wurden folglich durch den §151 alle Menschen kriminalisiert, die mit anderen Menschen Sex hatten, wenn beiden bei der Geburt das gleiche Geschlecht zugewiesen wurde. Dies betraf also zum Beispiel auch trans* Männer. Wichtig ist zu wissen: Der Anspruch auf Entschädigung gilt unabhängig deiner jetzigen und damaligen geschlechtlichen oder sexuellen Identität. |
Eine Ausstellung verändert alles
Im Juni 1994 wurde der §175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Mitbekommen hatte er das wohl, aber die Nachricht hatte keinerlei Bedeutung für ihn. Durch eine Ausstellung über schwules Leben in Ludwigshafen im dortigen Stadtmuseum, bekommt er Kontakt zur Bundestiftung Magnus Hirschfeld in Berlin. Dort ermutigt man ihn einen Antrag beim Bundesamt für Justiz in Bonn zu stellen. „Den Antrag konnte ich ganz formlos stellen“, erinnert er sich. Aber jetzt rächt sich die Sorgfalt seiner Mutter. Sein Antrag wird von der zuständigen Staatsanwaltschaft abgelehnt. Die Begründung: Es fehlen Dokumente, die seine Verurteilung bestätigen. Auch ein zweiter Antrag scheitert.
Klaus will schon aufgeben, als er von BISS e. V. erfährt. Hier wird er kompetent beraten und unterstützt. BISS spricht auch mit der zuständigen Staatsanwaltschaft. Denn zu jeder Verurteilung muss es noch Abschriften geben, die auf Antrag den Betroffenen zur Verfügung gestellt werden müssen. Sie gibt es nach 40 Jahren angeblich nicht mehr. Von ihm wird eine Eidesstattliche Erklärung verlangt. Am Ende hatte er alle relevanten Unterlagen zusammen. „Ich war sehr skeptisch, ob das klappt“, erinnert er sich „aber Aufgeben wollte ich nicht“.
„Wichtiger war für mich die Anerkennung des Deutschen Staates“
Schließlich wird sein Antrag bewilligt. Ihm werden 3.000 Euro zugesprochen für die Verhaftung und Verurteilung, Später noch einmal 1500 für die Zwangstherapie. „Ich habe mich natürlich über das Geld gefreut“, sagt Klaus. „Aber wichtiger war für mich die Anerkennung seitens des Deutschen Staates, dass mir hier Unrecht getan wurde. Mit dem Geld hat er zusammen mit seinem Mann eine Woche Urlaub auf Sylt gemacht. „So richtig schick, mit allem Komfort“. „Und wir haben uns noch ein neues Service gekauft, wir haben ja noch nicht alle Tassen im Schrank“, lacht er. Klaus konnte das Erlebte hinter sich lassen. Auch wenn es manchmal mühsam war, bereut hat er es nicht, für seine Rechte gekämpft zu haben.
Bereut hat er es nicht, für seine Rechte gekämpft zu haben.
Was sich Klaus S. für die Zukunft wünscht.
Heute lebt er in Mannheim und ist zum Aktivisten geworden. Er engagiert sich beim Runden Tisch sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Stadt Mannheim und leitet eine Gruppe für schwule Senioren. Große Wünsche für die Zukunft hat er nicht. Er würde sich freuen, wenn noch möglichst viele Männer einen Entschädigungsantrag stellen, „Und ich würde mir wünschen, dass die Menschen alle Menschen so akzeptieren wie sie sind, egal wen sie lieben“.
Du kennst eine Person, die auch nach §175 (BRD) oder §151 (DDR) verurteilt wurde? Dann ermutige sie dazu, einen Antrag auf Entschädigung zu stellen. Alle Informationen findet ihr in diesem IWWIT-Blogbeitrag, beim Bundesjustizamt, sowie unter https://schwuleundalter.de/entschaedigung-und-rehabilitierung/ |
Alles zum schwulen Leben im Alter findest du unter https://www.iwwit.de/schwules-leben/alter. |
Nachtrag: Nach Fertigstellung dieses Artikels wurde bekannt, dass die aktuelle Regierung plant, Ansprüche auf Entschädigung möglicherweise doch über den 22. Juli hinaus aufrechtzuerhalten. Trotzdem könnte es ratsam sein, einen Antrag rasch zu stellen. Kompetente Beratung erhältst du auch hier bei BISS e. V.. |