Kampf um Gleichstellung: Siegeszug der Populist_innen?

Der politische Diskurs hat sich deutlich nach rechts verschoben, Hetze gegen Flüchtlinge, Homo- und Transphobie und Antifeminismus ist salon- und talkshowfähig geworden – Zeit, sich dem entschieden entgegenzustellen, meint Elmar Kraushaar

Der politische Diskurs hat sich deutlich nach rechts verschoben, Hetze gegen Flüchtlinge, Homo- und Transphobie und Antifeminismus ist salon- und talkshowfähig geworden – Zeit, sich dem entschieden entgegenzustellen, meint Elmar Kraushaar

Orlando in Florida: In der Nacht zum 12. Juni tötet ein bewaffneter Mann 49 Menschen in einem Club, der bevorzugt von Lesben und Schwulen besucht wird. Einen Tag später äußert sich Bundeskanzlerin Merkel „tief betroffen“ zu dem Anschlag – die Worte „schwul“ oder „lesbisch“ kommen ihr nicht über die Lippen. Auch Bundespräsident Gauck ignoriert in seiner Stellungnahme den homophoben Aspekt des Verbrechens.

Eine kleine Gruppe von Aktivist_innen und Politiker_innen kommt vor der Berliner US-Botschaft zu einer Mahnwache zusammen, einzig beim DGB-Haus in Schöneberg wird die Regenbogenfahne auf Halbmast gesetzt. Ganz anders dagegen US-Präsident Obama, Kanadas Premier Trudeau, der französische Präsident Hollande und Schwedens Ministerpräsident Löfven. Sie alle bekunden ihre tiefe Trauer und Solidarität mit der LGBT-Gemeinde. In New York und Tel Aviv, in Paris, Brüssel und anderen Großstädten werden umgehend öffentliche Gebäude und Sehenswürdigkeiten in den Farben des Regenbogens angestrahlt. Erst sechs Tage später kommt es auf die private Initiative zweier Aktivisten schließlich zu einem regenbogenfarbenen Brandenburger Tor, davor gedenken mehr als 5.000 Menschen der Opfer von Orlando. Die deutsche Politik tut sich schwer mit einer adäquaten Reaktion auf diesen Anschlag, aber auch die meisten Medien hierzulande brauchen ihre Zeit, bis sie den schwul-lesbischen Kontext benennen.

Politik und Medien reiben sich erstaunt die Augen: Was wollen die eigentlich noch? Es ist doch alles erreicht.

Für die deutsche LGBT-Gemeinde ist der Anschlag von Orlando ein Schock. In den Schmerz über die Toten mischt sich wie ein Weckruf die Erkenntnis, dass die Situation für Lesben, Schwule und Transgender nicht so rosig ist wie angenommen. Denn nicht nur in der mangelnden Trauer nach Orlando versagt die Politik auf ganzer Linie. Auch ernsthafte Bemühungen um die längst überfällige rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare rangieren bei allen Parteien ganz am Ende der Agenda. Und die Wiedergutmachung für die letzten überlebenden Männer, die nach Paragraf 175 verurteilt wurden, wird nachlässig behandelt – bis niemand mehr da sein wird, der noch entsprechende Ansprüche stellen könnte.

Falls dennoch die Lage Homosexueller öffentlich zur Sprache kommt, wird lediglich darauf verwiesen, wie viel man schon erreicht habe. „Die deutsche Regierung hat in vielen Schritten zum Abbau von Diskriminierung beigetragen“, verlautbart Regierungssprecher Seibert im Namen der Kanzlerin. Der gleiche Ton lässt sich in den deutschen Medien beobachten, beständig versichert man sich gegenseitig, wie liberal dieses Land sei, wie viel Toleranz inzwischen gelebt werde, wie unvoreingenommen man seinem homosexuellen Nachbarn begegnen könne. „Anders, aber nur noch ein bisschen“, freut sich die FAZ anlässlich des Frankfurter CSDs 2016. Sobald sich Homosexuelle mit ihren Anliegen und Protesten öffentlich äußern, reiben sich Politik und Medien nur noch erstaunt die Augen: Was wollen die eigentlich noch? Es ist doch alles erreicht.

„Homosexuelle und Kampflesben haben das Ziel, die traditionelle Familie und den Fortbestand der Menschheit zu zerstören.“

Spätestens mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD), der ersten rechtspopulistischen Partei seit 1945 mit bedrohlicher Strahlkraft, dürfte klar sein, dass die politische und soziale Lage für LGBT nicht so sicher ist, wie voreilig angenommen. Mit reaktionärem Gerede und populistischen Parolen verschiebt die AfD insgesamt den politischen Diskurs deutlich nach rechts. War man überzeugt, es könne nach jahrelangem Fortschritt nur immer weiter aufwärts gehen, entpuppt sich diese Idee jetzt als Trugschluss. Mit aller rhetorischen Kraft wendet sich die AfD gegen alles, was den Begriff Gender im Wort hat. „Homosexuelle und Kampflesben“, heißt es Anfang Juli auf einer Veranstaltung der Partei in München, „haben das Ziel, die traditionelle Familie und den Fortbestand der Menschheit zu zerstören.“ Angestrebtes Familienideal ist das der ersten Nachkriegsjahre, dahin will man zurück. „Widerstand ist nötiger denn je“, verkündet Anfang 2016 die stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch, „die Gender-Ideologie ist und bleibt familienfeindlich.“

Dabei lässt sich – so weit reicht die Erkenntnis der Partei – die Realität homosexueller Menschen nicht zurückdrehen, aber ihre Gleichstellung muss auf jeden Fall verhindert werden. Der Antifeminismus der AfD und ihre Homophobie sind neben ihrer Hetze gegen Flüchtlinge und ihrem Kampf gegen den Islam Garant dafür, erfolgreich anzukoppeln an die Ressentiments und Vorurteile der Bevölkerungsteile, die anfällig sind für die Versprechen der AfD – Konservative und Neonazis ebenso wie die sogenannten kleinen Leute und jene aus der Mitte der Gesellschaft, die sich allesamt abgehängt fühlen, unverstanden und nicht mehr vertreten durch die Regierenden.

Beverfoerde, Kuby und Kelle: quotenträchtig Stimmung machen gegen Lesben und Schwule.

Die Erfolge der AfD korrespondieren direkt mit einem Kulturkampf, der in Deutschland seit Jahren um sich greift. Menschen christlichen Glaubens sowie mit konservativen Grundeinstellungen gehen gegen die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ auf die Straße. Ausgelöst wird der Protest durch einen neuen Bildungsplan der rot-grünen Landesregierung in Baden-Württemberg, der die Themen Homo- und Transsexualität endlich angemessen im Unterricht berücksichtigen will. Gabriel Stängle, ein evangelikaler Lehrer, kann bis Mitte 2014 mit einer Online-Petition fast 200.000 Unterzeichner gegen diese Pläne mobilisieren.

Eine zentrale Figur in der Organisierung dieses konservativen „Widerstands“ ist Hedwig von Beverfoerde, CDU-Mitglied und christliche Fundamentalistin. Mit ihrer Initiative „Demo für alle“ organisiert sie Veranstaltungen und Straßenaufmärsche, um ihr Familienbild von vorgestern durchzusetzen. „Gender“, sagt sie, „ist christenfeindlich und zielt auf die Ordnung, die Gott uns gegeben hat.“ Die Idee der „Demo für alle“ orientiert sich am Vorbild der Bewegung „La Manif pour tous“, die in Frankreich seit 2013 Hunderttausende auf die Straße bringt. Prominenten Beistand erhält Beverfoerde von den Publizistinnen Birgit Kelle und Gabriele Kuby. Letztgenannte ist die Tochter des streitbaren linken Autors Erich Kuby, ihr Buch „Die globale sexuelle Revolution“ von 2012 liefert die notwendigen Argumente für die christlich-konservative Debatte. Sie verteidigt den Zölibat und das Tugendkonzept der Keuschheit, sie wendet sich gegen Abtreibung und die Gleichstellung Homosexueller. In vielen Punkten stimmt sie überein Birgit Kelle, die sich ihrerseits immer wieder gegen „Gender-Mainstreaming“ und eine Frauenquote ausspricht. „Gender-Mainstreaming will letztlich an unsere Kinder heran“, warnt sie: „Diesen soll beigebracht werden, dass alles möglich ist und nichts mehr gilt.“ Alle drei, von Beverfoerde, Kuby und Kelle, sind immer wieder gern gesehene Gäste in den Talkrunden von ARD und ZDF, wenn es darum geht, mit provokanten Thesen – verpackt als zulässige Meinungsäußerung – quotenträchtig Stimmung zu machen gegen Lesben und Schwule.

Von der „Homo-Lobby“ und „Frühsexualisierung“: Wie Konservative „argumentieren“  

Dabei werden die klassische Geschlechterordnung und die heterosexuelle Orientierung als „natürliche“ und „wertvollste“ Lebensform wiederbelebt. Wie bei der AfD wird auch hier unter der Gender-Formel alles Böse subsumiert, das es zu bekämpfen gilt: ein zeitgemäßes Frauenbild, die Schulaufklärung über Homo- und Transsexualität, die Gleichstellung Homosexueller. Probate Mittel in diesem Kampf sind Lüge und Halbwahrheiten, Hetze und Verdrehungen. Da wird gewarnt vor der Macht der „Homo-Lobby“, die angeblich in allen gesellschaftlichen Bereichen an Einfluss gewinnt. Gewarnt wird auch vor einer „Frühsexualisierung“ der Kinder, die unter dem Einfluss einer modernen Pädagogik in Kindergarten und Schule in ihrer sexuellen Entwicklung verführt und fehlgeleitet werden sollen. Emotionales Fundament dieser Kampfbegriffe ist die Angst, Angst davor, bei der Toleranz für andere Lebensformen übervorteilt zu werden; Angst davor, die Kinder verlieren zu können an die Welt der LGBT, die man selbst nicht mehr versteht; Angst davor, den Halt zu verlieren mit Blick auf die Zunahme von Single-Haushalten und Ehe-Scheidungen.

Die „Demo-für-alle“-Bewegung, hauptsächlich in Stuttgart zu Hause, greift auch in andere Bundesländer über, Ende 2014 geht man in Hannover auf die Straße, Ende Juli 2016 stand München auf dem Programm, die geplante „Weckruf-Demo“ wurde allerdings wegen des Attentats abgesagt. Ein besonderer Tiefpunkt wird am 11. Oktober 2015 in Stuttgart erreicht: Unter großem Beifall der Demo-Teilnehmer bekundet ein junger Mann, sein Schwulsein nicht ausleben zu wollen. An dieser wie auch an anderen Veranstaltungen nehmen immer wieder Gäste aus Italien, Frankreich und Österreich teil, Beleg dafür, wie gut die Bewegung auch international vernetzt ist.

Vielfältige Unterstützung gibt es aus den Medien. Die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“ ist da ebenso am Werk wie „Compact“, ein verschwörungsfreundliches Monatsmagazin aus Leipzig. Dazu kommen neurechte Zeitschriften und Blogs wie „Eigentümlich frei“, „Sezession“, „Conservo“ oder „Politically Incorrect“. Anti-Gender-Themen sind hier genauso zu Hause wie Polemiken gegen Lesben und Schwule. In einer Artikelserie gegen Bildungspläne und Sexualaufklärung diffamiert 2014 die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ Projekte wie die Akademie Waldschlösschen, das Aufklärungsprojekt SchLau sowie einzelne Wissenschaftler.

Nur wenige Tage nach dem Verbrechen von Orlando wird eine Studie veröffentlicht, wonach in Deutschland der Hass auf Muslime, Homosexuelle und Sinti und Roma massiv anwächst. Über 40 Prozent der Befragten finden es „ekelhaft“, wenn sich gleichgeschlechtliche Paare in der Öffentlichkeit küssen. Und 36 Prozent finden, dass homosexuellen Paaren weiterhin das Ehe-Recht vorenthalten werden soll. In allen Fällen liegen diese Zahlen deutlich höher als bei vergleichbaren Umfragen wenige Jahre zuvor. Offenbar zeigen die Attacken von AfD und der „Demo für alle“-Bewegung erste Erfolge. Und ein Ende des Siegeszuges der Rechtspopulisten ist nicht abzusehen, wie die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen zeigen. Und die „Demo-für-alle“-Aktivisten verfolgen weiter ihre heilige Mission. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn nicht Politik und Medien einerseits sowie eine entschlossene LGBT-Bewegung andererseits ihre Verantwortung erkennen und diesen undemokratischen und antiemanzipatorischen Bestrebungen mit aller Kraft entgegentreten.

Dieser Beitrag beruht auf einer Kurzfassung des umfassenden Arbeitspapiers „Der Anti-‚Gender‘-Aufstand – der neue gemeinsame Kampf von christlichen Aktivisten und Neurechten gegen Aufklärung und Emanzipation“ von Norbert Blech.

Kurzfassung des DAH-Arbeitspapiers von Norbert Blech (PDF-Datei, 2016)

Demo für alle
„Ehe und Familie vor – Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder!“ So die Kurzbeschreibung der „Demo-für-alle“ auf Facebook.
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