Manuel wohnt auf dem Land und will in die Großstadt. Den genau umgekehrten Weg ist Thilo gegangen. Der gebürtige Berliner lebt mit seinem Mann René, vier Zwergschafen und 45 seltenen Hühnern in einem Dorf zwischen Neuruppin und Havelberg. Glücklich.
Geboren in Berlin, unweit von Bahnhof Zoo, Ku’damm und Gedächtniskirche, sehnte sich Thilo schon als Kind nach Wald, eigenem Garten und Vogelvieh. Mit Anfang 30 war es so weit: Der Berliner kaufte ein Haus im Speckgürtel. „Allerdings habe ich einen zweiten Anlauf gebraucht, um die richtige Gegend zu finden“, gesteht der heute 51-Jährige. In der Siedlung sei er dermaßen als „Wessi“ angefeindet worden, dass er das Haus wieder verkauft habe. Statt zurück in die Metropole zu flüchten, erwarb Thilo 1998 eine Bauernkate noch tiefer in Brandenburg. Sie steht in Sieversdorf, einem Ort mit 600 Einwohnern in der Ostprignitz.
„Auf dem Land ist die Anteilnahme viel größer“
Umzug in die No-Go-Area
Ausgerechnet Brandenburg. Manchen Schätzungen zufolge kommt es hier vier Mal häufiger zu homophoben Gewalttaten und Beleidigungen als in Berlin. Entsprechend groß war anfangs die Skepsis bei dem Mann, in den sich Thilo 2006 verliebte, den er zum gemeinsamen Leben in Sieversdorf bewog und den er 2009 heiratete: René stammt aus dem Schwarzwald und ist homophobe Vorurteile durchaus gewohnt. So sei der Umzug nach Sieversdorf angstbesetzt gewesen. „2006 war das Jahr der Weltmeisterschaft, und deutsche Politiker riefen Brandenburg zur No-Go-Area aus“, erinnert sich René.
Das Miteinander zählt
Doch als der Möbelwagen vor der Bauernkate stand, kam alles anders. Der erste Kommentar, den René von einer Passantin hörte, lautete: „Ach guck, das ist der Neue von Thilo. Der bleibt länger.“ Seither habe es nicht eine einzige Situation gegeben, in der sich die beiden in Sieversdorf ausgegrenzt gefühlt hätten. Im
Gegenteil: Zur Trauung kamen Menschen in die Kirche, die sich laut dem Pfarrer sonst nicht mal zu Weihnachten blicken lassen. „Auf dem Land ist die Anteilnahme am Leben der Mitmenschen viel größer als in der Stadt“, sagt Thilo. „Meiner Erfahrung nach erwarten die Leute hier nicht, dass du in allem mit ihnen übereinstimmst. Sie verlangen aber Aufrichtigkeit.“
In dieser Aufrichtigkeit sehen Thilo und René den Grund, wieso sie in Sieversdorf freundschaftlich „die Jungs“ genannt werden. Ihre Liebe zueinander leben sie offen, vor dem Haus weht eine Regenbogenfahne und sogar aus ihrer HIV-Infektion haben die beiden kein Geheimnis gemacht. Die Reaktion eines Nachbarn: „Naja, einer hat Krebs, ein anderer HIV, so ist das eben.“ Damit sei die Angelegenheit im Dorf erledigt gewesen.
„Die Jungs“ haben zu tun
Wegen ihrer Infektion sind René und Thilo schon seit Jahren Frührentner. Dennoch haben sie zu tun. Thilo arbeitet Teilzeit in Demenz-WGs in Spandau, René ein paar Tage im Monat in einer Berliner Schwulensauna. Zu Hause versorgen sie Tiere – und damit sind nicht nur „eine uralte leicht demente Katze“ und zwei Mandarinenten gemeint. Beim Rundgang durch Hof und Garten zeigt das Paar stolz seine Hühnervolieren. Darin scharren 45 Exemplare von Rassen, die vom Aussterben bedroht sind, und von denen eine drolliger aussieht als die andere. Auch die vier Schafe, die am Gras herumzupfen, haben Seltenheitswert. Es sind Ouessantschafe. Die wolligen Zwerge gehen dem hoch aufgeschossenen Thilo nicht einmal bis zum Knie und sind doch schon ausgewachsen.
Und dann sind da noch die Wochenendbesucher. Die Freunde der zwei nennen das Haus, das nur wenige Hundert Meter vom Wald entfernt steht, eine „Wohlfühloase“ und hocken sich gern mit ihren Gastgebern vor den Kamin. Vermissen René und Thilo etwas auf dem Land? Die beiden überlegen einen Moment. „In der Stadt sind die Wege zum Einkaufen kürzer“, antwortet René. Thilo nickt.