Klemens Ketelhut kämpft für ein komplettes Verbot von Konversionstherapien, mit denen Schwule angeblich „geheilt“ werden. Dass das nicht klappt, weiß der 45-Jährige aus eigener Erfahrung. Als Teenager geriet er an christliche Fundamentalisten, die ihn von seinem „Dämon“ befreien wollten. Eine wahre Geschichte ohne Happy End.
Mit der Dating-Show „Prince Charming“ ist schwules Leben im Mainstream angekommen. Doch die selbstbewussten (und hübschen) TV-Homos verstellen den Blick aufs echte Leben. Und da endet nicht jede Coming-out-Story mit einem glücklichen Paar in der Traumvilla.
Klemens Ketelhut ist zum Beispiel nicht besonders glücklich – und zweifelt, dass er der einzige ist, der „nicht gut in der schwulen Welt angekommen“ ist. „Es gibt viele Coming-out-Geschichten wie meine – nicht alle gehen gut aus.“ Deshalb hat sich der Leipziger entschieden, hier seine zu erzählen, mit all ihren Widersprüchen und einem Kapitel, das ihn bis heute belastet. Als Märchen würde sie so beginnen:
Es war einmal in den 90er-Jahren, als die meisten Menschen kein Internet hatten und ein bayerischer Innenminister verkündete, über die Homo-Ehe ebenso wenig zu diskutieren wie über „Teufelsanbetung“. Damals war Klemens ein Teenager im Schwäbischen Wald und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Seine Familie war gläubig, zumindest religiöser als die meisten anderen. Klemens und seine zwei Brüder gingen jede Woche in den Kindergottesdienst, engagierten sich später im Jugendkreis und verbrachten ihre Ferien auf christlichen Jugendfreizeiten.
Religion als Rebellion
Klemens suchte Gott noch intensiver als der Rest seiner Familie. Über den Schülerbibelkreis lernte er ein freikirchliches Christentum kennen. Er vertiefte sich in die Heilige Schrift und besuchte Lobpreisgottesdienste. In denen singen und beten die Menschen so intensiv, bis sie das Gefühl haben, vom Heiligen Geist erfüllt zu sein. „Damit habe ich mich gegen meine Eltern und ihre evangelische Landeskirche gestellt“, erinnert sich der heute 45-Jährige. „Wenn man als junger Mensch einen eigenen Zugang zur Welt sucht, ist der charismatische Glaube allemal attraktiver als eine kleine Gemeinde im Schwäbischen Wald.“
Mit Bekannten aus diesem fundamentalistischen Umfeld fuhr Klemens auf eine Jugendfreizeit, zwei Wochen auf einer Nordseeinsel. Das ehrenamtliche Betreuungsteam kam aus einer evangelikal-charismatischen Gemeinde – und folgte einem bösen Plan. „Die hatten sich offenbar abgesprochen“, urteilt Klemens im Rückblick. Schon kurz nach der Ankunft nahm der Gruppenleiter Klemens erstmals beiseite und eröffnete dem 15-Jährigen, dass er von einem Dämon besessen sei. Schon im Bus habe er einen anderen Jungen „lüstern“ angeschaut. „Sie haben mir immer wieder erklärt, dass ich geheilt werden müsste. Sonst würde ich in die Hölle kommen.“ Bis dahin hatte Klemens nur mit einem einzigen Menschen über seine sexuelle Orientierung gesprochen, ganz vorsichtig. Nun zwang ihn die charismatische Clique zu einer Auseinandersetzung mit seiner Sexualität – noch vor seinem eigenen Coming-out.
Dämon auf der Nordseeinsel?
An einem der folgenden Tage muss der Junge als einziger im Ferienheim bleiben, während alle anderen einen Ausflug machen. „Es gab so eine Art Entscheidung, dass ich mit ihrer Hilfe den Dämonen austreiben möchte“, räumt Klemens ein. Aber welche Entscheidungsfreiheit hat ein Teenager, der von erwachsenen Betreuern bedrängt wird? Der zum ersten Mal ohne seine Brüder unterwegs ist, auf einer abgelegenen Insel? „Da hat man keine Wahl mehr, schon gar nicht, wenn du daran glaubst.“
Also fügt sich Klemens in die Behandlung. Einzelheiten möchte er nicht preisgeben, weil das Ereignis ihn auch drei Jahrzehnte später aufwühlt. „Ich habe auch keine vollständige Erinnerung daran.“ Nur so viel kann Klemens rekonstruieren: Einen ganzen Tag war er eingesperrt, immer umgeben von fünf bis sieben Erwachsenen. „Ich wusste in bestimmten Phasen nicht mehr, ob ich lebend aus diesem Raum rauskomme.“
„Das war keine Therapie, sondern psychische, physische und sexuelle Gewalt.“
Nachdem Klemens den Horrortag überstanden hatte, war er euphorisch: Der Dämon war vertrieben und er wieder ein Teil der Gruppe. Erst nach einigen Wochen kommen ihm Zweifel. Noch immer findet er Jungen spannender als Mädchen. Aber er vertraut sich niemandem an. Sein panischer Gedanke: Was würde passieren, wenn sich seine Eltern bei der Reiseorganisation beschweren? „Ich hatte so eine Angst davor, noch einmal in Kontakt mit dem Gruppenleiter zu kommen. Das war ein bedrohlicher Mensch. Heute hoffe ich nur, dass der Alte elendig verreckt ist.“
Jedes Coming-out eine gute Erfahrung
So hart formuliert Klemens selten. Als Hochschullehrer ist er geübt darin, Vorträge zu halten. Auch über den Missbrauch, den er ertragen musste, spricht er meist sachlich. Sein Fazit: „Damals wollte ich dazugehören. Heute sage ich: Das war keine Therapie, sondern psychische, physische und sexuelle Gewalt. Es ist krass, einen 15-Jährigen zu isolieren und ihm einzureden, er sei für alle eine Gefahr. Das ist böse!“
Als Jugendlicher aber hat Klemens das Böse noch nicht so klar erkannt wie heute. Er engagierte sich weiter in seiner Gemeinde: „Das war kein Bruch, sondern ein Ablösungsprozess. Aber heute würde ich sagen: Der Missbrauch war der Anfang vom Ende meiner charismatischen Karriere.“
Ermutigt durch das Vorbild seines Vorgesetzten outete sich Klemens in seiner damaligen Arbeitsstelle.
Nachdem Klemens für seine Ausbildung in eine größere Stadt gezogen ist, schloss er allmählich Frieden mit seiner sexuellen Orientierung. Wäre seine Lebensgeschichte ein Märchen, wäre damals eine gute Fee ins Spiel gekommen: sein erster Vorgesetzter. Der hat ihn nicht nur in Heilerziehungspflege ausgebildet, sondern auch vorgelebt, dass man offen schwul und glücklich zugleich sein kann. „Wir waren gemeinsam in einer Mitarbeiter-Theatergruppe und haben dort Musik und Kabarett gemacht“, erinnert sich Klemens. „Das war einfach gut. Er hat mich ein bisschen an die Hand genommen.“ Ermutigt von seinem Vorbild outete sich Klemens in seiner damaligen Arbeitsstelle. Es folgten viele weitere Coming-outs, in der Familie, bei Freunden, und alle verliefen gut: „Ich habe nie die Erfahrung gemacht, dass mich Menschen danach abgelehnt haben.“
Aktivismus gegen Vorurteile
So engagiert wie er als Teenager in der Kirchengemeinde war, so legte sich Klemens nun für die queere Community ins Zeug. Mit Anfang 20 organisierte er Sommercamps beim Jugendnetzwerk Lambda. Der große Unterschied: Dort werden junge Menschen nicht manipuliert, sondern darin bestärkt, sich selbst und andere zu respektieren.
Später, umgezogen nach Leipzig, arbeitete Klemens im Verein „Rosa Linde“ mit, vor allem beim Bildungsprojekt „Liebe bekennt Farbe“. Es hilft Jugendlichen, Vorurteile gegenüber queeren Menschen abzubauen, vor allem durch persönliche Begegnungen mit Gleichaltrigen, die schon out sind.
Heute forscht der promovierte Erziehungswissenschaftler unter anderem zu Gender- und Queerstudies. Gemeinsam mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld entwickelt Klemens ein Beratungsangebot für andere „Überlebende“ von Konversionstherapien, die queere Jugendliche angeblich „heilen“ sollen. „Viele möchten ihre Homosexualität wegmachen, wenn sie jung sind und noch keine positiven Role-Models kennen“, vermutet Klemens. „Unser Ziel ist ein Präventionsangebot, das allen hilft, die aus einer totalen Gemeinschaft aussteigen möchten – egal ob das Evangelikale sind, Salafisten oder Nazis.“
Bundestag verbietet „Umpolungen“
Erst vor Kurzem hat Klemens‘ Geschichte wieder eine märchenhafte Wendung genommen. Sein persönlicher Einsatz – und der seiner vielen Verbündeten – führt zu einem wichtigen Sieg im Kampf gegen den Fundamentalismus: Im Mai 2020 verbietet der Bundestag Konversionstherapien und stellt klar, dass solche „Umpolungen“ schweres Leid verursachen, körperlich wie seelisch. Das neue Gesetz soll Minderjährige künftig besser vor dem schützen, was Klemens mit 15 widerfahren ist. „Dieses Teilverbot hätte mir damals wohl geholfen“, vermutet Klemens. „Queere Kinder und Jugendliche von heute sollen so etwas nicht erleben müssen! Deshalb engagiere ich mich.“
Spätestens nach diesem politischen Erfolg taugt Klemens‘ Lebensgeschichte als Vorlage für eine Streaming-Serie. Der Plot: Ein Teenager wird von bösen Erwachsenen missbraucht. Aber nach seinem Coming-out kämpft er mit Hilfe seiner queeren Community solange, bis ein Gesetz solche Machenschaften verbietet. Währenddessen verliebt er sich in einen Mitstreiter, die beiden heiraten, und wenn sie nicht gestorben sind…
Eine bessere Welt schaffen
Doch in so einem modernen Märchen würde sich Klemens nicht wiedererkennen: „Ich habe keinen Freund gefunden, der mir beisteht“, stellt er klar. „Ich bin seit 17 Jahren Single und muss mir aus allem selber raushelfen.“ An mangelnden Kontakten kann es nicht liegen, dass Klemens keinen Mann fürs Leben findet. „Durch mein Engagement lerne ich viele kennen“, berichtet Klemens, „aber wenn es darum geht zu flirten oder Sex zu haben, fühle ich mich oft nicht sicher genug. Für mich bleibt die schwule Community ein gefährlicher Ort.“ So prägt der Missbrauch sein Leben bis heute, obwohl der Evangelikalen-Exorzismus nur ein kurzes Kapitel war.
„Wir müssen uns auch um die kümmern, die nach einem Coming-out nicht glücklich sind“,
fordert Klemens Ketelhut.
„Solche Erfahrungen sind wie Tretminen in der Psyche“, erklärt Klemens, „sie können noch Jahrzehnte später explodieren.“ Vor zwei Jahren wurde bei Klemens eine Posttraumatische Belastungsstörung festgestellt. Inzwischen macht er eine spezielle Psychotherapie – und erzählt erstmals in Interviews von seinen Erfahrungen. Seine ganz und gar nicht märchenhafte Lebensgeschichte soll allen Mut machen, denen es ähnlich geht wie ihm. „Wir müssen uns auch um die kümmern, die nach einem Coming-out nicht glücklich sind“, fordert Klemens. Auch ihre belastenden Geschichten gehören zur Wirklichkeit im freien Europa.
Sein jüngstes Coming-out ist für Klemens auch ein Appell an alle schwulen Männer, nachsichtiger miteinander umzugehen: „Es wär schön, wenn wir aufhören würden, uns gegenseitig schlechtzumachen, nur weil sich jemand den Sack nicht rasiert“, sagt Klemens. „Stattdessen könnten wir gemeinsam überlegen, wie wir die Welt zu einem besseren Ort machen für unsere jüngeren Brüder und Schwestern.“ Klemens muss lachen, weil das so pathetisch klingt. Aber jede gute Geschichte braucht eine Moral – ein Happy End ist dagegen verzichtbar.
Philip Eicker
Mehr Infos zu Klemens‘ Geschichte
Zum Weiterhören: Im Podcast „Y-Kollektiv“ in der ARD Audiothek erzählen Klemens und andere davon, wie sie von ihrer Homosexualität geheilt werden sollten.
Hintergrund zum Verbot von Konversionsbehandlungen in Deutschland und weltweit
In Deutschland gilt seit 2020 ein gesetzliches Verbot von Konversionsbehandlungen von Personen unter 18 Jahren. Das Gesetz „gilt für alle am Menschen durchgeführten Behandlungen, die auf die Veränderung oder Unterdrückung der sexuellen Orientierung oder der selbstempfundenen geschlechtlichen Identität gerichtet sind“ (§1, Abs. 1, Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen).
Verboten ist nicht nur die Durchführung solcher Behandlungen, sondern auch die Werbung, das Anbieten sowie die Vermittlung derartiger Angebote. Zudem soll ein spezielles Beratungsangebot unter dem Dach der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung entstehen.
Insbesondere die Beschränkung des Verbots auf Unter-18-Jährige wird hierzulande auch kritisiert.
Deutschland ist damit weltweit erst das vierte Land – nach Brasilien, Ecquador und Malta, das Konversionsbehandlungen landesweit verbietet. In weiteren Ländern gibt es zumindest in bestimmten Regionen ein solches Verbot.
Eine Übersicht über den aktuellen Stand weltweit findet Ihr bei ILGA World (Informationen auf Englisch und Spanisch).