In Sachen Homophobie sorgt Russland für Schlagzeilen. Immer mehr Regionalregierungen verbieten „homosexuelle Propaganda“, schwul-lesbische Vereine werden als „ausländische Agenten“ verdächtigt. Die staatlich verordnete Homophobie hat aber auch ihr Gutes: Sie bringt viele liberale Russen dazu, Stellung zu beziehen.
Ein Coming-out kann tödlich enden. So wie in Wolgograd. Am 9. Mai wurde in der südrussischen Stadt die Leiche eines 23-Jährigen gefunden: der Schädel zertrümmert, die Genitalien verletzt. Offenbar hatten die Täter den Mann mit Bierflaschen vergewaltigt. Die Polizei nahm zwei 22 und 27 Jahre alte Männer fest. Sie sollen den Jugendlichen getötet haben, nachdem er sich während der Feierlichkeiten zum Kriegsende am 8. Mai als schwul geoutet hatte. Laut Polizeiprotokoll gaben die Täter an, vom Opfer in ihren „patriotischen Gefühlen“ verletzt worden zu sein.
Hohe Geldstrafen für "Homo-Propaganda"
Patriotische Gefühle? Das klingt komisch in deutschen Ohren. Aber in Russland ist Homosexualität derzeit eine Frage von nationaler Bedeutung. Entsprechend heftig waren die Reaktionen auf den Gewaltexzess in Wolgograd. Nicht nur schwul-lesbische Gruppen empörten sich, auch die Homo-Gegner bezogen sofort Stellung: „Das ist nicht der einzige Mord in Russland“, bemerkte der St. Petersburger Stadtrat Witali Milonow kühl, die Medien sollten den Fall nicht aufbauschen. Mit dem von ihm vorangetriebenen Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ habe der Fall nichts zu tun.
Der Hintergrund: Seit März 2012 gilt in St. Petersburg eine Verordnung, die Minderjährige vor dem Einfluss schwul-lesbischer Informationen schützen soll. Mit dem Gesetz wurde ausgerechnet Russlands queere Metropole zum Vorreiter eines homophoben Roll-back. Inzwischen erließen zehn andere Regionen ähnliche Gesetze, zuletzt am 24. April die Oblast Irkutsk. Auch das gesamtrussische Parlament diskutiert derzeit ein Verbot „homosexueller Propaganda“. Eine Verabschiedung im Sommer gilt als wahrscheinlich. Bei Verstößen sieht der Gesetzentwurf hohe Geldbußen vor: bis zu 125 Euro für Privatleute und bis zu 12.500 Euro für Organisationen. In St. Petersburg kann es noch teurer werden: Bis zu einer Million Rubel (rund 26.000 Euro) können verhängt werden.
Die Angst greift um sich
„Die Strafen sind wahnsinnig“, sagt Gulya Sultanova (38) vom queeren Kulturfestival „Bok o bok“, das seit 2008 jährlich in St. Petersburg stattfindet. „Für eine kleine Organisation wie unsere wäre eine Verurteilung das Ende.“ Das Festival-Team geht deshalb auf Nummer sicher: „Wir kontrollieren genau, dass bei unseren Events keine Minderjährigen dabei sind“, betont Guly Sultanova. Dabei sei das Festival bisher ein „wertvolles Erlebnis“ gerade für Teenager im Coming-out gewesen. „Viele glauben, dass sie pervers oder krank sind. Wenn sie dann zu einer so offenen Veranstaltung kommen, hat das fast eine therapeutische Wirkung.“ Doch selbst für Erwachsene wird es schwer: Aus Angst vor dem Ruin verweigern auch Kinos und andere Veranstaltungsorte die Zusammenarbeit.
Zu allem Überfluss geraten die kleinen schwul-lesbischen Vereine noch von einer anderen Seite unter Druck: Die russische Regierung verdächtigt sie der Spionage. Seit 2012 müssen sich alle Nichtregierungsorganisationen (NGO) in Russland als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, sobald sie Spenden aus dem Ausland erhalten. Viele Vereine und Stiftungen klagen über Schikanen von Staatsanwaltschaften, Steuerbehörden oder Gesundheitsämtern. Davon betroffen sind auch große Einrichtungen wie die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Das Ziel der russischen Regierung sei klar, kritisiert Lars Peter Schmidt, KAS-Leiter in Moskau: „Man möchte die Zivilgesellschaft, die Opposition und die NGOs möglichst unter Kontrolle bekommen.“
Auch bei „Bok o bok“ gab es seit März zwei Razzien. Für den queeren Verein ist die neue Härte der Regierung Putin existenzgefährdend. „Ohne ausländische Spenden geht bei uns gar nichts“, erklärt Gulya Sultanova. „Bisher ist keine russische Stiftung bereit, uns zu unterstützen.“ Zwar gibt es lokale Unternehmen, die das Festival sponsern. Doch allein damit sei das umfangreiche Angebot nicht zu stemmen. „Das ist ja auch das eigentliche Ziel dieser Gesetze: Die lesbisch-schwule Community soll wieder in den Untergrund gedrängt werden.“
Homosexualität als Bedrohung der Traditionen
Die neue Repression beendet die kurze Blütezeit der queeren Subkultur. 1993 wurde männliche Homosexualität in Russland legalisiert, seit 1999 gilt gleichgeschlechtliche Liebe nicht mehr als psychische Krankheit. Das schwule Nachtleben in Riesenstädten wie St. Petersburg und Moskau ist legendär. Doch mit dem neuen Selbstbewusstsein wuchs auch neuer Hass. „Viele Schwule und Lesben trauen sich inzwischen aus dem Keller“, sagt Gulya Sultanova. „Sie haben keine Lust mehr, heimlich zu leben.“ Auf diesen Trend zum Coming-out reagieren viele Heteros ablehnend, hat Sultanova beobachtet. „Verstärkt wird diese Reaktion, weil die russische Regierung jetzt stark auf konservative Werte setzt: Patriotismus, Glaube und Gehorsam.“ Homosexualität tauge hervorragend als Symbol für alles, was diese Traditionen bedroht.
Trotzdem lassen sich die Schwulen und Lesben in St. Petersburg nicht einschüchtern. Für den Internationalen Tag gegen Homophobie am 17. Mai haben sie eine Demonstration auf dem zentralen Marsfeld angemeldet. Der sogenannte Rainbow-Flashmob hat schon Tradition in Russland. 2009 fand der erste statt. 2012 nahmen in St. Petersburg immerhin rund 100 Teilnehmer teil und ließen bunte Luftballons steigen als Zeichen für die Vielfalt der Menschen – so wie Demonstranten in aller Welt. Für 2013 sind 70 Aktionen in 38 Ländern angekündigt.
Die Homophobie kommt ans Licht
Einer der Erfinder des Flashmobs ist Wanja Kilber. Vor 15 Jahren ist der heute 32-Jährige aus Kasachstan nach Deutschland übergesiedelt. Seine Russischkenntnisse und seine alten Kontakte nutzt er heute, um einen regen Austausch zwischen der deutschen und russischen Community zu organisieren. Trotz der jüngsten Rückschläge sieht Kilber auch positive Entwicklungen: „Die Gesetze gegen homosexuelle Propaganda haben etwas bewirkt, was Lesben und Schwule in all den Jahren zuvor nicht schaffen konnten: Sie erregen die Aufmerksamkeit der Massenmedien und machen die Ungerechtigkeit für viele offensichtlich. Homophobie gab es auch vorher schon, aber nun kommt sie ans Licht.“
Gerade erst Anfang April war Wanja Kilber in St. Petersburg und Moskau zu Besuch. „Für mich sind das immer sehr ambivalente Reisen“, sagt er. „Ich treffe Menschen, die ihre Angst überwunden haben und nun für ihre Rechte kämpfen.“ Auch viele Heteros schlössen sich an. „Das ist ein starkes Zeichen für Russland! Wenn ich diese mutigen Menschen sehe, denke ich mir nur: Womit haben sie diese Regierung verdient?“
Veranstaltungstipps
Zum Internationalen Tag gegen Homophobie am 17. Mai sind weltweit Veranstaltungen angekündigt, auch in vielen deutschen Städten. Einen Überblick gibt es auf rainbowflash.org.
In der Hamburger CSD-Woche diskutieren in diesem Jahr Jugendliche aus St. Petersburg und Hamburg. Termin: 29. Juli, 19 Uhr, Pride House, An der Alster 40, 20099 Hamburg, Infos unter hamburg.lsvd.de.