„Hoffen, dass die Situation nicht noch schlechter wird“

Über die Situation von Schwulen und Lesben in Russland angesichts zunehmender Repressionen und Menschenrechtsverletzungen berichtet die russische LGBT-Aktivistin Gulya Sultanova im Gespräch mit Axel Schock

Schwule und Lesben in Russland hatten es in den letzten Jahren alles andere als leicht. Doch spätestens seit der Verabschiedung des Gesetzes gegen „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ im vergangenen Jahr ist Homophobie gewissermaßen zur Staatsdoktrin erhoben worden.

Die unmittelbaren Folgen hat auch Gulya Sultanova, Mitorganisatorin des Internationalen queeren Filmfestivals „Side by Side“ in St. Petersburg, zu spüren bekommen. Die Veranstalter und Besucher sahen sich Schikanen durch die Behörden, tätlichen Angriffen und sogar Bombendrohungen ausgesetzt. Für ihren Mut und ihr Engagement wurde die 38-jährige Gulya Sultanova zusammen mit ihrer „Side-by-Side“-Mitstreiterin Manny de Guerre 2013 mit dem Rainbow Award des Lesbisch-Schwulen Stadtfestes Berlin ausgezeichnet. Die russische LGBT-Aktivistin Gulya Sultanova (Foto: Воскресенский Петр)In Deutschland und vielen anderen Ländern finden seit der Verabschiedung des Gesetzes gegen die „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ Solidaritäts-aktionen statt. Sind sie für euch hilfreich?
Gulya Sultanova: Grundsätzlich ist eure Unterstützung sehr wichtig und kann viel bewirken. Die lesbisch-schwule Community hier im Land darf nicht im Stich gelassen werden, denn uns fehlen in Russland die Mittel, um gegen unsere Regierung kämpfen zu können.

Der Rainbow Flashmob in St. Petersburg 2009 waere heute eine Straftat (Foto: Воскресенский Пётр)

Was bedeutet das?
Wir arbeiten zwar mit vielen Journalisten zusammen, aber die Möglichkeiten sind stark eingeschränkt. Wir haben einfach keine freie Presse. Wir erreichen nur jene Menschen, die in den sozialen Medien aktiv sind und von sich aus bereits ein Stück weiterdenken. Doch der Großteil der Bevölkerung sieht hauptsächlich fern, und die meisten TV-Kanäle sind staatlich kontrolliert. Das heißt, die Programminhalte orientieren sich an dem, was der Staat für richtig hält.

Aber was nützen dann internationale Proteste? Über sie wird in den russischen Mainstream-Medien ja ebenso wenig berichtet.
Russland ist in viele internationale Verbände und Organisationen eingebunden, nicht zu vergessen die wirtschaftlichen Verbindungen. Auch wenn der russische Staat das nicht so offen zeigt: das Land ist von diesen Kontakten, insbesondere in die westliche Gemeinschaft, abhängig. Deshalb hat alles, was auf den offiziellen bilateralen Ebenen vermittelt wird, enorme Wichtigkeit. Denn die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen wissen dann, dass sie nicht folgenlos einfach tun und lassen können, was sie möchten.

Heißt das, ausländische Organisationen sollten vor allem auf nationale wie internationale Partner Russlands einwirken, dass sie Druck auf die russische Regierung ausüben?
Die internationale Gemeinschaft sollte bei ihren Protesten stets betonen, dass es ihr nicht allein um die Situation der Homosexuellen in Russland geht, sondern um die Verletzung der Menschenrechte aller russischen Bürger. Denn Menschenrechte werden derzeit auf allen Ebenen und in allen sozialen Gruppen verletzt, etwa von Migranten oder beim Wahlrecht und der Presse. Politische Gegner werden aus dem Land verbannt oder sitzen ohne Rechtsgrundlage jahrelang im Gefängnis.
Der Westen sollte nicht den Eindruck vermitteln, er setze sich nur für die LGBT-Community ein, und all die anderen Verstöße seien in Ordnung oder weniger wichtig. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat das vorbildlich gemacht. Er hat die Absage seines Besuchs der Winterspiele in Sotschi mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland begründet.Trotz offiziellen Verbots: Mutige Demonstranten beim Moskau Pride 2008 (Foto: Nikolai Alekseev)

Wie wird diese Fokussierung auf die LGBT-Community in der russischen Gesellschaft wahrgenommen?
Die Homophobie in Russland ist sehr stark. Die staatliche Propaganda arbeitet mit der Unterstellung, dass Homosexualität eigentlich nicht russisch, sondern eine importierte Lebensweise sei. Die Unterstützung der Schwulen und Lesben durch den Westen dient deshalb als Beweis für diese These: „Seht doch, sie unterstützen nur diese Perversen. Sie wollen, dass unser Land zugrunde geht!“

Trotz offiziellen Verbots: Mutige Demonstranten beim Moskau Pride 2008 (Foto: Nikolai Alekseev)

Aber wie kann die internationale Gemeinschaft jenseits von Solidaritätsbekundungen dann helfen, die Lage in Russland zu verbessern?
Das ist eine schwierige Frage. Die Isolierung Russlands und seiner Menschen ist nicht die Lösung, sondern im Gegenteil: Sie müssen, so oft es geht, in internationale Austausch- und Kooperationsprojekte eingebunden werden, wie etwa in Kulturfestivals oder in Bildungsprogramme. Dabei sollten dann die Menschenrechte, besonders auch die von LGBT, bewusst angesprochen werden. Durch eine solche Zusammenarbeit kann sich sehr viel im Bewusstsein und Denken der Menschen verändern.

Hast du dafür ein positives Beispiel?
Die Berliner Schaubühne nahm vergangenes Jahr mit einer Inszenierung des „Tod in Venedig“ am St. Petersburg Theaterfestival teil, und der Intendant Thomas Ostermeier widmete die Vorstellung in einer kurzen Ansprache der LGBT-Community Russlands. Das hat sehr viel bewirkt. Es gab zwar viele negative Reaktionen von nationalistischen Gruppen, aber auch viel Solidarität und Diskussionen darüber – in St. Petersburg und ganz Russland.

Zeigt denn die internationale Kritik tatsächlich Wirkung? Putin gibt sich in den Medien recht unbeeindruckt und weist jegliche Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten zurück.
Dass die Kritik nicht ohne Folgen bleibt, haben wir unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen „Homosexuellen-Propaganda“ gesehen. Damals, im Sommer 2013, war bereits ein Folgegesetz, mit dem homosexuellen Eltern die Kinder entzogen werden sollte, in die Duma eingebracht worden. Der Druck von innen, vor allem aber auf internationaler Ebene, war offenbar zu groß. Im September wurde der Gesetzesentwurf wieder zurückgezogen.

Offiziell, um die Textfassung zu überarbeiten.
Das ist natürlich nur eine Ausrede, um das Gesicht zu wahren. Denn wenn der Wille wirklich da wäre, könnte natürlich auch während des Verfahrens an Textdetails gearbeitet werden. So geschah es auch beim „Homosexuellen-Propaganda-Gesetz“. Dort wurden zwei Wochen vor der Verabschiedung völlig neue Formulierungen eingefügt, wie etwa der Begriff der „nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen“.

Ist nicht zu befürchten, dass man mit der Verabschiedung bis nach den Olympischen Winterspielen wartet, wenn Russland nicht mehr so stark unter internationaler Beobachtung steht?
Das kann niemand mit Gewissheit sagen. Das politische System in Russland ist einfach zu intransparent. Ich möchte keine Prognose stellen, aber ich hoffe, dass das Gesetz zum Kindesentzug nicht erneut auf die Agenda kommt. Es wird sehr davon abhängen, wie nachhaltig der Druck der internationalen Gemeinschaft auch nach Sotschi sein wird. Wenn das Interesse verloren geht, ist für uns alles vorbei. Wenn die Kritik weiter anhält, haben wir Hoffnung, dass sich unsere Situation nicht noch weiter verschlechtert. Der Rainbow Flashmob in St. Petersburg 2009 waere heute eine Straftat (Foto: Воскресенский Пётр)Ein bisschen scheint Putin auch offiziell auf die internationale Kritik zu reagieren. Das strikte Demonstrationsverbot in Sotschi hat er zumindest etwas gelockert. Wird es dort Demonstrationen gegen die Menschenrechtsverletzungen in Russland geben?
Russische Menschenrechtsorganisationen werden ganz sicher keine solchen Demonstrationen durchführen, weil das gar nicht möglich ist. Sotschi wurde zu einem Sperrgebiet erklärt. Um Zugang zur Stadt zu erhalten, benötigt man eine besondere Einreisegenehmigung. Die Überprüfung der betreffenden Personen dauert Monate, und natürlich sind alle Geheimdienste des Landes involviert. Deshalb haben Menschenrechtsaktivisten keine Chancen, eine solche Genehmigung zu bekommen.

Russische Homosexuelle fuerchten weitergehende staatliche Diskriminierungen (Foto: Victoriagrigas)

Heißt das, dass auch der gewöhnliche russische Bürger nicht einfach nach Sotschi fahren kann, um die Stadt und die Spiele zu besuchen?
So ist es. Sotschi ist ein geschlossenes Gebiet. Auch innerhalb Sotschis gibt es absurde Regelungen. Die Stadt ist in unterschiedliche Zonen aufgeteilt, und nicht einmal die Einwohner können problemlos von der einen Zone in die andere reisen, um beispielsweise Verwandte zu besuchen. Auch dafür sind Genehmigungen notwendig. Durch diese Regelungen sind unerwünschte Protestaktionen im Grunde ausgeschlossen. Wenn Demonstrationen stattfinden werden, kann man davon ausgehen, dass sie staatlich organisiert sind.

Inwieweit können Institutionen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte helfen, die russische Regierung in die Schranken zu weisen?
Was Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeht, belegt Russland wohl den ersten Platz. Doch leider bringt das nicht sehr viel, selbst wenn man vor Gericht gewinnt. Das sehen wir etwa im Fall des Gay Pride. Die Demonstrationen werden seit 2005 immer wieder verboten. Das Straßburger Gericht befand schließlich, dass sie erlaubt werden müssen. Außerdem wurde Russland zu einer Kompensationsstrafe verurteilt.
Doch trotz dieses Richterspruchs hat sich an der Situation bislang nichts geändert. Auch in anderen Angelegenheiten hat Russland die Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs immer wieder ignoriert, beispielsweise zum Einsatz von Giftgas bei der Erstürmung des Moskauer Dubrowka-Theaters im Jahr 2002, bei der 129 Geiseln getötet worden waren. Trotzdem werden wir als Menschenrechts-aktivisten diesen Rechtsweg weiter nutzen.

Wie ist die Situation jener Schwulen und Lesben, die nicht aktivistisch tätig sind und eher versteckt leben?
Es gibt natürlich viele Schwule und Lesben, die gewissermaßen im Untergrund leben. Das betrifft vor allem die Generation der über 40-Jährigen, die noch in der Sowjetunion und mit dem Homosexuellenparagrafen 121 aufgewachsen sind. Bis zu dessen Abschaffung 1993 war Homosexualität eine kriminelle Tat. Schwule Männer kamen ins Gefängnis, Lesben wurden häufig in psychiatrische Klinken eingewiesen. Seit es das Gesetz nicht mehr gibt, ist eine neue Generation herangewachsen, die viel offener lebt und aus der auch die meisten Aktivisten entstammen. Für sie stellt sich jetzt die entscheidende Frage: Offen leben wie bisher und sich dadurch akuter Gefahr aussetzen oder sich wieder verstecken? Das entscheidet natürlich jeder und jede für sich selbst.

Hat sich die Stimmung im Land generell verändert?
Die Angst ist stärker geworden. In den Medien ist in jüngster Zeit immer wieder zu hören und zu lesen, wie schlecht und gefährlich Homosexualität ist, welchen negativen Einfluss sie auf das Land hat. Viele Bürger hatten vorher überhaupt keine bestimmte Haltung zu Homosexuellen, doch durch diese Propaganda denken sie nun schlecht über sie. Das hat zur Folge, dass offen lebende Schwule und Lesben verstärkt gesellschaftliche Ächtung fürchten müssen und viele deshalb vor einem Coming-out zurückschrecken. Die Tendenz, sich wieder zurückzuziehen, nimmt erkennbar zu. Andererseits gibt es auch Menschen, die nicht mehr in den Untergrund zurückwollen und entscheiden, jetzt etwas dagegen zu unternehmen. In vielen Städten, in denen wir es nie vermutet hätten, gibt es plötzlich Aktionen und Projekte.

Gibt es auch Schwule und Lesben, die noch Schlimmeres befürchten und deshalb das Land verlassen?

Das ist leider der Fall und betrifft vor allem jene, die Kinder haben. Sie haben Angst, dass sie schikaniert und bedroht werden oder dass man ihnen eines Tages die Kinder wegnehmen wird.

Je schlechter die Lage in Russland wird und je mehr Länder bereit sind, Homosexuellen Asyl zu geben, desto mehr nimmt die Zahl der Ausreisewilligen zu. Von ausländischen LGBT-Organisationen wissen wir, dass die Zahl der Asylanträge wegen Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung stark zunimmt. Russische Homosexuelle fuerchten weitergehende staatliche Diskriminierungen (Foto: Victoriagrigas)

Die russische LGBT-Aktivistin Gulya Sultanova (Foto: Воскресенский Петр)

Also Flucht aus dem eigenen Land als einzige Chance, den Repressionen zu entkommen?
Ich bin skeptisch, ob sich die Hoffnung auf ein besseres, diskriminierungsfreies Leben im Ausland tatsächlich erfüllen lässt. Ich habe selbst ein Jahr lang in Deutschland gelebt und bei vielen russischen Migranten gesehen, wie schwer es ihnen fällt, in dem neuen Land, mit einer anderen Kultur, einer anderen Sprache ihren Platz zu finden. Viele der Ausreisewilligen sind sich dieser Schwierigkeiten nicht bewusst und können deshalb auch sehr enttäuscht werden.

Homophobie gibt es überall, und man muss als Immigrant offen sein für eine andere Lebensweise. Dazu sind viele nicht bereit. Wie viele es tatsächlich geschafft haben, in einem neuen Leben anzukommen, werden wir erst in einigen Jahren wissen.

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