In “Positiv – Leben mit HIV und Aids” berichten Menschen mit HIV aus ihrem Alltag. Das Buch erzählt zugleich eine Menge über schwulen Sex im Jahr 2010.
Knapp 70.000 Menschen in Deutschland sind HIV-positiv. Das sind 70.000 Geschichten, 70.000 verschiedene Antworten auf die Fragen: Wie ist das passiert? Was denkst du darüber? Wie gehst du mit deiner Infektion um?
Jede Antwort ist anders, weil jeder Mensch anders ist. In ihrem Buch “Positiv – Leben mit HIV und Aids” stellen Phil C. Langer, Jochen Drewes und Angela Kühner 15 Menschen vor, die diese Fragen beantworten – von der 70-jährigen Hausfrau aus einer bayrischen Kleinstadt bis zum 25-jährigen Großstadtschwulen.
Kevin beispielsweise ist 30 und „lebt in einer süddeutschen Großstadt“. Er geht gelassen mit seiner Infektion um: „Ich habe mir schon gedacht, dass es so ist“, sagt er. Und: „Ich werde daran nicht sterben, dass hab ich im Gefühl.“ Kevins Vater ist Deutscher, seine Mutter Türkin. Seine Familie – so gern er sie hat – weiß nicht über seine Infektion Bescheid. „Sie hatten es schon schwer genug damit, als sie vor sechs Jahren erfahren haben, dass ich schwul bin.“
Lewis ist 45, gebürtiger Amerikaner und lebt in Westdeutschland. Er hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit in der Beziehung mit seinem Exfreund angesteckt, der positiv ist. „Wir waren einfach nicht stark genug, immer ein Kondom zu nehmen und den ganzen Zirkus. Ich war dann auch mal passiv, was ich sonst nicht so mache. Aber wenn dein Partner unglücklich ist, versucht man halt alles. Ich habe mich da in eine Position begeben, in der ich sehr verletzlich war. “
Kevin und Lewis beschreiben beide ein Phänomen, das in vielen der Berichte vorkommt: das Erahnen der Infektion, noch bevor man positiv getestet wird. Schwule Männer wissen, was Safer Sex ist und was nicht. Dass es trotzdem zu ungeschütztem Sex kommt hat viele Gründe, die in „Positiv“ sehr offen und ehrlich beschrieben werden. Das Buch nähert sich wie kaum eine Publikation vor ihm dem real existierenden (Sex-) Leben von Schwulen im Jahr 2010.
Man liest die Erfahrungsberichte und will dann mehr. Was schlicht daran liegen mag, dass es von diesen Zeugnissen in ihrer ganzen Alltäglichkeit noch viel zu wenige gibt. So ist das Buch nicht nur für Leser interessant, die sich einen Überblick über das Leben mit HIV verschaffen wollen. Man kann es auch beruhigt jedem Neu- oder Altinfizierten, jedem Angehörigen oder Freund in die Hand geben und sich darauf verlassen, dass es mindestens eine Geschichte gibt, in der er sich wiederfinden wird.
Leider hat das Buch aber auch eine Schwäche: Wo im letzten Frühjahr Matthias Gerschwitz in “Endlich mal was Positives” den Strahlemann mit HIV gab und dabei auch mal übers Ziel hinausschoss, konzentrieren sich die drei Herausgeber sehr stark auf die Schwierigkeiten, die einem das Leben mit HIV und Aids machen kann. Die kraft- und freudvollen Momente, von denen die Porträtierten erzählen, treten dabei zu oft in den Hintergrund. Hinzu kommt: Die Geschichten sind zwar sehr aufschlussreich, werden aber leider nicht besonders mitreißend wiedergeben.
Wo die persönlichen Berichte etwas zu trocken und traurig geraten, ist die Ein- und Heranführung ans Thema hingegen wirklich gelungen. Der Artikel “Hintergründe: HIV und Aids in Deutschland” bringt auf knapp 30 Seiten mehr Informationen unter als viele sehr viel dickere Bücher. Ab Seite 180 gibt es außerdem mehrere kürzere Texte, die sich mit den psychologischen Schwierigkeiten der Infektion und den Diskussionen über HIV und Aids auseinandersetzen. Hier finden Einsteiger ins Thema viel Nützliches.
Zusätzlich listen die Herausgeber im Anhang empfehlenswerte Bücher zum Weiterlesen auf. Im gut gemachten Glossar finden sich auch solche Menschen zurecht, die sich zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigen.
Zusammen mit den 15 persönlichen Geschichten ist “Positiv – Leben mit HIV und Aids” damit das vielfältigste Buch zu Thema, das derzeit in Deutschland zu haben ist.
(Paul Schulz)
Phil C. Langer, Jochen Drewes, Angela Kühner: “Positiv – Leben mit HIV und Aids”, Balance, 232 Seiten, 15,95 Euro
1 Euro des Kaufpreises geht als Spende an die Deutsche AIDS-Hilfe