Die homophobe Politik der Putin-Regierung wirkt sich massiv auf das Leben von LGBT und die Versorgung von Menschen mit HIV in Russland aus. Ein Interview mit den LGBT-Aktivsten Sergey Gubanov und Evgeny Pisemskiy. Interview von Ljuba Böttger.
Sergey Gubanov und Evgeny Pisemskiy sowie 13 weitere Aktivistinnen und Aktivisten aus Moskauer LGBT-Communities, die auf Einladung der Initiative „Raduga-Brücke Berlin-Moskau“ Berlin besucht hatten, waren am 4. November 2014 in der Deutschen AIDS-Hilfe zu Gast.
Sergey stammt aus Smolensk und lebt seit sieben Jahren in Moskau. Als junger Mann hatte er sich in einen Moskauer Aktivisten verliebt und so die LGBT-Community kennengelernt. Sergey arbeitet als Freelancer und Versicherungsmakler und ist seit fünf Jahren Ehrenamtler bei der „Rainbow Association“. Der gemeinnützige Verein setzt sich für Menschenrechte ein und organisiert Film- und Kulturveranstaltungen zu Themen wie Coming-out, LGBT oder HIV/Aids.
Evgeny ist Leiter der Selbsthilfe-Organisation „Phönix Plus“, die Menschen mit HIV und Aids betreut, wie zum Beispiel im Elton-John-Projekt, in dem schon länger mit HIV lebende schwule Männer frisch diagnostizierte „Peers“ begleiten und unterstützen. Das Projekt hat außerdem zum Ziel, die russische Öffentlichkeit für HIV-Themen zu sensibilisieren.
Wie werden russische Kinder und Jugendliche aufgeklärt? Gibt es in der Schule überhaupt Sexualkundeunterricht?
Sergey: Sexualkundeunterricht gibt es in den Schulen Russlands heute nicht mehr. Als ich zu Schule ging, das war vor zwölf Jahren, wurden wir wenigstens in den letzten Klassen zweimal jährlich über Sexualität, den eigenen Körper und über Schwangerschaft oder auch über Risiken beim Drogengebrauch aufgeklärt. Aber schon damals wurde im Unterricht nicht über gleichgeschlechtliche Liebe und sexuelle Identität gesprochen. Als ich dann später auf Lehramt studierte und erziehungswissenschaftliche Kurse absolvierte, wurde dort nie über Sexualität oder gar gleichgeschlechtlichen Sex diskutiert – das war einfach tabu.
Und heute? Wenn sich Jugendliche beispielsweise mit Homosexualität auseinandersetzen wollen oder müssen, sind sie überhaupt nicht darauf vorbereitet, denn in der Schule klärt sie niemand darüber auf, noch nicht mal über Sexualität allgemein.
Am 11. Juni 2013 unterzeichnete die russische Regierung das Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“, das faktisch jegliche positive oder neutrale Darstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen verbietet. Wie hat sich dieses Gesetz auf Jugendliche ausgewirkt, die sich in ihrem sozialen Umfeld bereits als homosexuell geoutet haben?
Sergey: In dem 2014 produzierten Dokumentarfilm „deti-404“ berichten genau solche Jugendliche, wie sehr Ausgrenzung und Erniedrigungen nach der Verabschiedung des Gesetzes zugenommen haben – in den Schulen, aber auch in den Familien und dem übrigen sozialen Umfeld. Wie zu erwarten war, wurde dieser Film nicht für Vorführungen in öffentlichen Veranstaltungen freigegeben.
Den Hauptdarsteller, Pavel, kenne ich persönlich. Er erzählt im Film, auf welche Schwierigkeiten er gestoßen ist, nachdem er sich geoutet hatte. Seine Mitschüler und sogar die Klassenlehrerin mobbten und erniedrigten ihn, und zwar nicht nur psychisch, sondern auch physisch. Er schildert im Film die letzten anderthalb Jahre seiner Schulzeit, bevor er nach Kanada geht.
Die gegenwärtige Situation in Schulen ist überaus kritisch. Die Kinder bekommen überhaupt keinen Sexualkundeunterricht, und die Lehrer schauen zu, wie Schulkinder Hetzjagden auf LGBT-Jugendliche veranstalten. Die Regierung macht keinen Finger krumm, um die Stigmatisierung in Schulen zu thematisieren und dagegen vorzugehen.
Wie können sich LGBTs in einem so homofeindlichen Land kennenlernen? Ist es gefährlich, sich mit Unbekannten zu verabreden?
Evgeny: „Ich denke, dass sich Menschen aus der LGBT-Community in Russland genauso kennenlernen wie in Deutschland. Es gibt Internetseiten, wo Sex angeboten und gesucht wird. Und es gibt auch Apps wie Grindr, zum Beispiel die russischsprachige App „Hunters“. Die Wahrscheinlichkeit, beim Online-Dating in gefährliche Situationen zu geraten, ist allerdings viel höher als in Deutschland. In Russland denken einige, dass es richtig ist, die LGBT-Community zu verdrängen oder sogar auszulöschen. Es gab auch eine Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Schwule und Lesben aufzuspüren, und es gab gewalttätige Übergriffe.
Doch die Regierung unternimmt kaum etwas dagegen. Denn wenn sie intervenieren würde, hieße es gleich, sie würde die LGBT-Community anerkennen. Stattdessen suchen die staatlichen Organe andere Wege, um gegen solche Übergriffe vorzugehen. Zum Beispiel wurde der Kopf einer homofeindlichen Gruppe wegen „radikal-nationalistischer Handlungen“ verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.
Sergey: Die Staatsbediensteten sind noch viel schlimmer. Sie bekommen für ihre homophoben Aktionen gesellschaftliche Zustimmung und fühlen sich im Recht. Ihr Handeln wird legitimiert, und so können sie tun, was sie wollen, ohne ihre Arbeit zu verlieren.
Wie steht es um die medizinische Versorgung von Menschen mit HIV in Russland?
Evgeny: Nach offiziellen Angaben beträgt der Anteil schwuler Männer an der Gesamtzahl der HIV-Positiven in Russland nur zwei Prozent, was natürlich nicht stimmt. Das kommt daher, dass Schwule viel leichter eine medizinische Behandlung bekommen, wenn sie sich als Drogengebraucher ausgeben; diese Gruppe ist in Russland besonders stark von HIV betroffen. Bei HIV-Positiven, die sich beim Arzt als schwul outen, wird erst einmal die Homosexualität „therapiert“ – sie bekommen keine fachgerechte HIV-Behandlung oder werden sogar wegschickt.
Es gibt nur wenige HIV-Positive, die ihre sexuelle Orientierung beim Arzt oder im sozialen Umfeld preisgeben. Sogar die Ärzte haben Angst, über dieses Thema zu reden, und können nicht damit umgehen, wenn sie mit Homosexualität konfrontiert werden. Mit unserem Elton-John-Projekt versuchen wir, etwas an dieser Situation zu ändern.
Entsprechend schwierig wird sich das Leben von HIV-positiven LGBT in Russland gestalten.
Evgeny: HIV-positive Drogengebraucher werden meist von ihrer Familie, von Freunden und Ärzten unterstützt. LGBT-Familien, die mit HIV leben, bekommen dagegen keine Hilfe und werden weder von ihrem sozialen Umfeld noch von Ärzten aufgefangen. Neben der Stigmatisierung aufgrund der sexuellen Identität ist es die Aids-Phobie, die Betroffene aus der Gesellschaft drängt.
Ist in der LGBT-Community Russlands die HIV-PrEP – HIV-Medikamente für Negative zum Schutz vor einer Ansteckung – ein Thema?
Evgeny: Ja, darüber wird bereits gesprochen, aber die PrEP wird nirgendwo angeboten. Die LGBT-Community hat erste Impulse zur Auseinandersetzung mit der PrEP gesetzt, aber die Gesundheitsbehörden äußern sich dazu nicht – wo HIV ein Tabuthema ist, redet man auch nicht über moderne Präventionsansätze. Wenn überhaupt eine medizinische Behandlung angeboten wird, dann sind es herkömmliche Therapien.