Herr Lehmann, 2021 wurden Sie von mehr als 70.000 Kölner*innen direkt in den Bundestag gewählt. Seit November sind Sie parlamentarischer Staatssekretär im Familienministerium und seit Januar auch noch der Queer-Beauftragte der Bundesregierung. Bei all diesen Erfolgen: Erleben Sie persönlich noch Benachteiligungen oder Diskriminierung, weil Sie schwul sind?
In den 20 Jahren, in denen ich schwul lebe, bin ich natürlich hin und wieder auch diskriminiert worden. Mein Mann und ich wurden beispielsweise auf der Straße beschimpft, weil wir Hand in Hand gingen oder im Internet angefeindet. Dennoch habe ich sicher weniger Alltagsdiskriminierung als andere Menschen erlebt, weil ich als Politiker in einer privilegierten Rolle bin. Meine Partei hat schon immer für die Rechte von LSBTIQ* und anderen Minderheiten gestritten. Da bin ich natürlich von einem sehr sicheren und offenen Umfeld umgeben.
Vor Kurzem haben Sie einen Hassprediger aus Görlitz angezeigt, der in einem Video gegen queere Menschen gehetzt und Ihnen den Tod gewünscht hat. Wie gehen Sie generell um mit homofeindlichen Attacken? Wann wehren Sie sich – und wann ignorieren Sie sowas, um Extremist*innen keine zusätzliche Aufmerksamkeit zu verschaffen?
Wenn es um Aufrufe zu Gewalt oder um einen Mordaufruf wie im Fall dieses Hasspredigers geht, zeige ich klare Kante. Da schalte ich den Staatsschutz ein und erstatte Anzeige. Bei meiner politischen Arbeit muss ich leider mit Hasskommentaren im Netz leben, die sich nun, da ich durch mein neues Amt als Queerbeauftragter noch mehr in der Öffentlichkeit stehe, massiv verstärkt haben. Ich ignoriere da vieles, aber auch hier melde ich Kommentare und blocke die Verfasser*innen, wenn Grenzen überschritten werden.
Diskriminierung innerhalb der LSBTIQ*-Community: Auch innerhalb der queeren Communitys treffen trans* Personen und nicht-binäre Menschen oft auf Vorbehalte. Wie inklusiv erleben Sie die queere Szene?
Die LGBTIQ*-Community ist sehr vielfältig – und genau so vielfältig sind die Forderungen, die die unterschiedlichen Gruppen an die Politik stellen. Als Queerbeauftragter bin ich Ansprechperson für alle. Ich versuche zuzuhören und die Bedürfnisse der Community in die Regierungsarbeit einzubringen. Bei aller Unterschiedlichkeit innerhalb der Community sehe ich aber zugleich auch viel Potenzial für Bündnisse. Und ich bin überzeugt: Wenn wir queerpolitisch in dieser Legislatur etwas erreichen wollen, dann brauchen wir dafür gegenseitige Solidarität. Wir müssen gemeinsam für die Rechte der LGBTIQ*-Community eintreten – zum Beispiel aktuell beim geplanten Selbstbestimmungsgesetz, das das sogenannte „Transsexuellengesetz“ ersetzen soll. Da gibt es gerade viel Gegenwind und wir werden noch so manche Diskussion führen und eine Menge Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis das Gesetz steht. Aus der Community heraus ist daher Unterstützung wichtig.
Fühlen Sie sich als Queer-Beauftragter auch zuständig für mehr Toleranz innerhalb der Community – und wie könnten wir sie fördern?
Auf jeden Fall sehe ich das als eine meiner Aufgaben an. Ich denke, das Wichtigste ist, miteinander im Gespräch zu bleiben und sich bewusst zu machen, dass wir die ambitionierten Ziele, die wir im Koalitionsvertrag verankert haben, nur erreichen, wenn die Community sich einbringt und solidarisch agiert. Dann schaffen wir in dieser Legislatur einen echten Aufbruch für Vielfalt, Selbstbestimmung und gleiche Rechte von LSBTIQ*-Menschen. Noch im Sommer will ich zum Beispiel den Startschuss für den ersten bundesweiten Aktionsplan für Vielfalt und gegen Queerfeindlichkeit geben.
Die Verbände und Initiativen der queeren Community leisten für diesen Aktionsplan einen sehr wichtigen Beitrag – wir starten einen Dialogprozess darüber, was für sie wichtig und wo weitere Förderung notwendig ist. Auch das Familienrecht soll endlich ein Update bekommen und den gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden. Denn Familien sind vielfältig und bestehen nicht immer nur aus Mutter, Vater, Kind. Wir wollen deshalb das Abstammungsrecht reformieren und Mehrelternschaften rechtlich absichern. Bei all diesen Themen gibt es innerhalb der Community verschiedene Interessen, die geäußert und auch gehört werden.
„Medizinisch ist HIV mittlerweile gut beherrschbar. Diskriminierung hingegen macht krank.“
Menschen mit HIV können heute fast problemlos mit dem Virus leben – und unter Therapie ist HIV nicht übertragbar. Ein großes Problem hingegen ist für sie die Stigmatisierung von HIV. Über ihre Infektion zu sprechen, erleben fast 80 Prozent als riskant, weil sie oft mit Vorurteilen konfrontiert werden – zum Beispiel bei einem Date. Wie wollen Sie in Ihrem Amt dazu beitragen, dass die Stigmatisierung von Menschen mit HIV weiter abgebaut wird?
Medizinisch ist HIV mittlerweile gut beherrschbar. Diskriminierung hingegen macht krank. Die Angst vor Zurückweisung und Ausgrenzung wiegt für viele Menschen mit HIV schwerer als die gesundheitlichen Folgen. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass der Aktionsplan für Vielfalt und gegen Queerfeindlichkeit auch Maßnahmen wie die Stärkung der Aufklärungsarbeit über HIV umfasst. Hier werde ich das Bundesministerium für Gesundheit und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bitten, sich aktiv einzubringen, um aktuelle Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten bei Ärzt*innen bekannter zu machen und um Stigmatisierung vorzubeugen. Denn niemand mit HIV sollte sich verstecken müssen.
Laut Umfragen wissen nur ein Fünftel der Deutschen, dass eine HIV-Therapie zuverlässig die Übertragung von HIV verhindert. Wie ist das in Ihrem Bekanntenkreis? Wissen da alle schon vom Schutz durch Therapie?
In meinem queeren Bekanntenkreis weitgehend ja. Aber einer heterosexuellen Bekannten, die sehr viele Ängste rund um das Thema HIV und Aids hat, habe ich neulich lange erklärt was PrEP ist und dass eine HIV-Therapie die Übertragung des Virus verhindern kann. Das wusste sie alles nicht und war danach erleichtert und dankbar für die Informationen.
„Die PrEP hat sich in den vergangenen Jahren als hoch effektiver Schutz erwiesen (…). Nun geht es darum, die Versorgung auch auf dem Land sicherzustellen.“
Seit mehr als zwei Jahren gibt es die PrEP als Kassenleistung, unter anderem für schwule Männer. Welche Bilanz ziehen Sie nach zwei Jahren PrEP auf Rezept?
Heutzutage gibt es mit Kondomen, PrEP und Therapie drei gute und wirksame Methoden der Prävention. Die PrEP hat sich in den vergangenen Jahren als hoch effektiver Schutz erwiesen – das zeigen Forschungen des RKI, mit denen die Einführung der PrEP begleitet und evaluiert wurde. Demnach nutzten schon 2020 geschätzt bis zu 21.600 Menschen in Deutschland PrEP, fast überwiegend Männer. Wir wissen auch, dass es sehr große regionale Unterschiede beim PrEP-Gebrauch gibt – insbesondere in Großstädten wie Berlin ist die Nutzung stark verbreitet. Nun geht es darum, die Versorgung auch auf dem Land sicherzustellen und in Regionen, in denen es weniger Ärzt*innen gibt, die PrEP verordnen – und gleichzeitig darum, Infos zur PrEP noch weiter in die Community hineinzutragen.
Wie stark hat die PrEP das schwule (Sex-)Leben verändert?
Ich glaube, fast jeder schwule Mann kennt das Gefühl, in regelmäßigen Abständen auf das Ergebnis eines HIV-Tests zu warten und zu hoffen, dass der Test negativ ist. Diese ständige Angst vor der Ansteckung kann zermürben und war als Belastung oft im Hinterkopf – obwohl Sexualität ja eigentlich befreiend und angstfrei sein sollte. Mit PrEP haben schwule Männer zusätzliche Sicherheit erhalten – für viele ist PrEP eine Befreiung, auch wenn sie natürlich nicht vor anderen STIs schützt.
„Diese ständige Angst vor der Ansteckung kann zermürben und war als Belastung oft im Hinterkopf – obwohl Sexualität ja eigentlich befreiend und angstfrei sein sollte.“
Ihr Partner Arndt Klocke hat sich schon 2017 in einem Interview als PrEP-Nutzer geoutet und auch sein Gesicht im Rahmen von Social Media bei ICH WEISS WAS ICH TU für die PrEP gezeigt. Jetzt interessiert uns natürlich sehr: Welche der drei Safer-Sex-Methoden zum Schutz vor HIV nutzen Sie und warum?
Ich bin bisher beim guten alten Kondom geblieben. (lacht)
Arndt Klocke und Sie sind seit 20 Jahren ein Paar. Deshalb zum Abschluss bitte noch ein Beziehungstipp: Wie gelingt eine glückliche Beziehung – trotz Karriere und viel Pendelei zwischen NRW und Berlin?
Mein Mann und ich achten sehr darauf, dass wir gemeinsame Zeit haben – unser Privatleben ist uns beiden heilig. Die Wochenenden verbringen wir so oft wie möglich zusammen entweder in Köln oder Berlin. Wir gehen dann viel ins Kino, wir interessieren uns für Kultur, Sport und Reisen. Und irgendwie ist die Pendelei zwar anstrengend, aber auch ein guter Beitrag für die Beziehung, weil wir uns dann immer wieder aufeinander freuen.
Vor Kurzem waren Sie und Herr Klocke beim Podcast Queerkram zu Gast. Dort sprachen Sie auch über Sex außerhalb der Beziehung. Sie sagten, offene Beziehungen würden sie auch den Heteros „gönnen und wünschen.“ Warum können Sie eine offene Beziehung empfehlen?
Empfehlen möchte ich gar kein bestimmtes Beziehungsmodell. Denn wie Beziehungen gelebt werden, was glücklich macht und was erfüllte Sexualität bedeutet, das muss jede*r für sich selbst entscheiden und mit anderen Menschen aushandeln. Was ich aber unbedingt empfehlen möchte, ist Offenheit – in den Partnerschaften, aber auch nach außen. Denn das macht frei und schafft auch neue Räume für andere Menschen, sich auch zu trauen. Selbstbestimmte Sexualität mit wechselnden Partner*innen, verbindliche monogame Partnerschaften und alle Varianten dazwischen: Darüber selber ohne Stigma entscheiden zu können ist Kern einer liberalen Gesellschaft. Und dazu gehört auch eine sex-positive Politik.