2013 erlebten Schwule und Lesben in Russland eine beispiellose Welle an Gewalt und Diskriminierung. Andrey vom Moskauer HIV-Projekt LaSky berichtet über die Folgen der homofeindlichen Gesetze und die Situation in der Schwulencommunity. Das Interview führte Axel Schock.
Im vergangenen Jahr wurden aus Russland immer neue homophobe Übergriffe gemeldet. Neonazis machten Jagd auf Schwule, um sie vor laufender Kamera zu quälen und sie im Internet zur Schau zu stellen. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen. In St. Petersburg zum Beispiel wurde eine Einrichtung der HIV-Organisation LaSky von Maskierten überfallen und Anwesende schwer verletzt. Der damals 27-jährige Aktivist Dima Tschischewski verlor durch einen Schuss aus einer Luftdruckwaffe sein linkes Auge.
Andrey, wie ist es Dima nach diesem Überfall ergangen?
Dima Tschischewski sah keinen anderen Weg mehr, als das Land zu verlassen. Er hat mittlerweile in den USA Asyl erhalten.
Kommen seit den Überfällen von Schlägertrupps weniger Besucher in eure Büros und Cafés?
Nein, unsere Klienten haben keine Angst und finden auch weiterhin den Weg zu uns. Allerdings haben wir intern Vorkehrungsmaßnahmen getroffen, um für solche Fälle gewappnet zu sein und besser reagieren zu können. Bemerkenswert ist, dass die Leute im Ausland viel besser über diese Vorfälle informiert sind, als das in Russland der Fall ist. In unseren Medien wird darüber so gut wie gar nicht berichtet. Im Mai dieses Jahres hat sich UNAIDS-Direktor Michel Sidibé in einem Gespräch mit mir dafür entschuldigt, dass seine Organisation damals nicht angemessen reagieren konnte.
Welches Versäumnis muss sich UNAIDS vorwerfen lassen?
Ich habe Sidibés Entschuldigung so verstanden, dass die Position von UNAIDS in Russland sehr schwach ist und man daher keine Chance sah, Einfluss geltend zu machen.
Im westlichen Ausland gab es bereits bei der Planung des Gesetzes gegen „Homosexuellen-Propaganda“ heftige Proteste. Putin hat es im Juni 2013 trotzdem unterzeichnet – anscheinend fühlte er sich durch diese Proteste sogar bestärkt. Sind Demonstrationen vor russischen Botschaften und ähnliche Aktionen überhaupt sinnvoll?
Das Problem ist auch hier wieder mangelnde Information. Was in Westeuropa passiert, weiß in Russland nur eine Handvoll Aktivisten. Die breite Bevölkerung, selbst die Schwulencommunity und die meisten Politiker erfahren davon gar nichts. Aber die Politiker würde es auch kaum kümmern, was ihr in Europa macht.
Ich glaube, dass Veränderungen vor allem auf informeller Ebene erreicht werden können, indem westliche Politiker das Thema beispielsweise bei Begegnungen mit russischen Kollegen ansprechen. Dabei ist es keineswegs so, dass sämtliche russischen Politiker erst noch zur Besinnung gebracht werden müssten: Viele wissen sehr genau, dass die staatlich propagierte Homophobie falsch ist. Aber sie würden sich nie trauen, das öffentlich zu sagen oder dagegen zu stimmen.
Umfragen und Studien zufolge ist die Homophobie in der russischen Gesellschaft tief verwurzelt. Lässt sich daran überhaupt noch etwas ändern?
Darauf weiß ich keine klare Antwort. Und ich hab schon sehr viel darüber nachgedacht! Ich hoffe jedoch, dass es eines Tages tatsächlich besser wird. Das wird aber sicherlich noch sehr lange dauern. Aus vielen kleinen Tropfen wird schließlich ein mächtiger, reißender Strom.
Was muss also passieren?
Diese Veränderung muss in jedem einzelnen Menschen stattfinden. Weder meine Freunde noch meine Mutter wissen beispielsweise, dass ich schwul bin. Meine Mutter kann ich besten Gewissens als homophob bezeichnen – sie weiß absolut nichts über Homosexuelle. Aber ich bin mir sicher: wüsste sie von meinem Schwulsein, würde sie ihre Meinung ändern und auch dafür sorgen, dass ihr Umfeld umdenkt. Das Problem ist nur, dass ich noch nicht so weit bin, um mein Schwulsein öffentlich zu machen. Ich denke, dass das Jüngeren etwas leichter fällt. Je mehr Leute von der Homosexualität ihrer Freunde und Familienangehörigen erfahren, desto schneller werden sie ihre Vorurteile ablegen.
Und wie verhalten sich schwule Politiker?
Die Schwulenszene Moskaus ist zwar sehr groß, und doch haben wir immer wieder auch die gleichen Sexpartner. Schon so einige haben mit dem rechtspopulistischen Politiker Wladimir Schirinowski das Wochenende in seinem Sommerhaus verbracht. Und er ist keineswegs der einzige schwule Politiker. Die Namen dieser Leute sind in der Öffentlichkeit kein Geheimnis. Aber keiner von ihnen würde bei einer Abstimmung wie der zum Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ Farbe bekennen und dagegen stimmen.
Ist für dich vorstellbar, dass Schwule in Moskau eines Tages genauso frei leben wie heute beispielweise in Berlin?
Nein, das halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das liegt zum einen an der völlig anderen Mentalität, zum anderen an der grundsätzlichen Ausrichtung der russischen Politik, die komplett auf das traditionelle Familienbild eingeschworen ist – übrigens, ohne dass jemals genau definiert worden wäre, wie das aussehen soll.
Das traditionelle Modell, wozu Kinder, Eltern und Großeltern gehören, ist für die Regierung sehr vorteilhaft, weil sich die Generationen umeinander kümmern. Das heißt, der Staat steht kaum in der Verantwortung und muss entsprechend wenig in die Versorgung investieren. Dieses System muss unbedingt erhalten werden, weil die Altersvorsorge in Russland schlicht katastrophal ist. Nur die wenigsten können von ihrer Rente tatsächlich leben, alte Menschen sind daher auf die Unterstützung ihrer Kinder und Enkel angewiesen.
Wie ich glauben viele Schwule und Lesben, dass sich so schnell nichts bessern wird. Sie sind entmutigt und haben keinerlei Hoffnung mehr. Viele haben das Land bereits verlassen, und noch mehr denken über diesen Schritt nach. Das bekommen auch Projekte und Organisationen wie LaSky zu spüren, weil vor allem politisch Engagierte emigrieren.
Wird sich das auf die Gesundheit und das Sexualverhalten schwuler Männer auswirken?
Die Folgen zeichenen sich schon jetzt ab: Die Leute ziehen sich zurück, werden depressiv. Psychische Krankheiten werden also noch mehr zunehmen. Wir beobachten, dass sich die Leute weniger um ihre Gesundheit kümmern, besonders die sexuelle Gesundheit, und daher auch größere Infektionsrisiken eingehen. Gründe sind mangelnde Perspektiven und Niedergeschlagenheit. Die Zahl anonymer Sexualkontakte und One-Night-Stands nimmt zu, während der Kondomgebrauch abnimmt. Die Männer gehen auch nicht mehr so häufig zu HIV- und STI-Tests, und wir verzeichnen eine zunehmende Rate positiver Testergebnisse. Russland gehört mittlerweile zu den wenigen Staaten weltweit, in denen die Zahl der HIV-Neuinfektionen weiter steigt.
Wie sollte man auf diese Entwicklung reagieren?
Wichtig ist, dass Projekte wie LaSky erhalten bleiben. Unsere Aufgabe ist, für Schwule ein Umfeld zu schaffen, das es ihnen ermöglicht, in Russland zu bleiben, sodass wir auch mit ihnen arbeiten können. Das sah zuletzt alles recht gut aus, denn einige ausländische Stiftungen hatten uns finanzielle Unterstützung zugesagt. Aber dann begann der Krieg mit der Ukraine.
Jetzt ist die ganze Welt gegen Russland, und viele internationale Stiftungen und große Geldgeber ziehen sich aus dem Land zurück oder haben diesen Schritt angekündigt. Doch ohne finanzielle Unterstützung aus dem Ausland ist unsere Präventionsarbeit nicht möglich, denn von der russischen Regierung haben wir nichts zu erwarten.