„Precious“ ist die größte Zumutung des Kinojahres. Niemand der diesen Film über ein 16jähriges HIV-positives Missbrauchsopfer gesehen hat, wird ihn je vergessen.
Als sie erfährt, dass sie positiv ist, sieht Precious einen Moment lang wie verbeult aus. Nur kurz brechen alle Brandmauern vor ihrer Seele zusammen, bevor sie das Kreuz gerade macht und die Selbstschutzanlagen wieder aufstellt. In diesen Sekunden der totalen Wehrlosigkeit sieht man ihr direkt in die Seele. Einen verzweifelten Seufzer lang kann man den hundertfachen Missbrauch, all die Schläge und die bodenlose Einsamkeit betrachten, die der Teenager normalerweise hinter einer schusssicheren Fassade aus 150 Kilo Lebendgewicht und endlosem Schweigen verbirgt. Es ist der entscheidende Augenblick ihrer Biografie: Sie ist ganz unten, schlimmer wird es nicht. Wenn sie das hier schafft, schafft sie alles. Ab jetzt geht’s nur noch aufwärts. 20 Film-Minuten später hat sie ihre prügelnde Mutter verlassen, ihren Analphabetenstatus gegen einen Schulabschluss eingetauscht und ist, ihre beiden Kinder im Arm, unterwegs in ihre Zukunft. Dann kommt nur noch der Abspann.
„Precious – Das Leben ist kostbar“ ist die größte Zumutung des Kino-Frühjahrs. Und das größte Fest. Ein Film über die dunkelsten Seiten des Lebens, aus dem Zuschauer lächelnd rausgehen. Kein Feel-Good-Movie, einer über Mut und Trotz und Lebenswillen, der einen durch Tränen lächeln lässt.
Die Geschichte: Wir schreiben 1987. Precious ist 16, zum zweiten Mal von ihrem Stiefvater schwanger, der sie seit sie 3 Jahre alt war missbraucht hat, wiegt drei Zentner und kann nicht lesen. Oder wie ihre kettenrauchende Mutter sagt: „Du bist dumm und hässlich. So was wie dich will oder braucht kein Mensch. Beweg deinen fetten Arsch zur Fürsorge.“
Statt sich in ihr absehbares Schicksal zu ergeben, beginnt Precious sich zu wehren, findet zu sich, lernt von einer lesbischen Lehrerin wer sie ist, was sie kann und dass sie geliebt wird, lernt Freunde kennen und wächst weit über sich hinaus. Das könnte kitschig sein, ist hier aber so wahrhaftig uns lebensnah inszeniert, dass es glaubwürdig und gerade deswegen tief bewegend ist.
„Precious“ ist auch das Duell zweier unglaublicher Schauspielerinnen: Gabourey Sidibe ist für ihre Rolle als Precious in ihrem Spielfilmdebüt dieses Jahr zu Recht für den Oscar nominiert worden. Die amerikanische Comedienne Mo’Nique hat ihn zu Recht bekommen, weil sie aus Precious‘ Mutter Mary eine Frau macht, die ihre Tochter zerstören will, weil sie es längst ist: ein großes, furchterregendes, komplett verständliches Monster.
Der offen schwule Regisseur Lee Daniels und der mit Academy Award ausgezeichnete Drehbuchautor Geoffrey Fletcher schaffen es, Kindesmissbrauch, HIV, häusliche Gewalt, Essstörungen, die alptraumhaften Zustände in den schwarzen Wellfare-Siedlungen und Mariah Carey unter einen Hut zu kriegen. Das Ergebnis ist eins der definitiven amerikanischen Sozialdramen der Kinogeschichte. „Precious“ wird niemand der ihn gesehen hat vergessen.
Das HIV hier auch als die soziale Katastrophe dargestellt wird, als die das Virus Mitte der 1980er unerwartet über die farbige Community in den USA hereinbrach, ist ein weiterer, nicht gering zu schätzender Verdienst des Films.
„Precious“, ab 26.3. in den deutschen Kinos zu sehen.
Paul Schulz