Eine der wichtigsten Pionier_innen der queeren Bewegung Marsha P. Johnson wäre im August 2020 75 Jahre alt geworden. Wir feiern sie und erklären, warum das wichtig ist. Und nötig.
Nicht alle Helden tragen Capes. Einige sind im Kleid unterwegs. Die ganz Großen tragen dabei Blumen im Haar.
Als ich in New York Anfang der 90er Jahre jung und dumm, aber schon relativ schwul war, interviewte ich in einer schäbigen Bar eine alte Frau mit leuchtenden Augen: Stormé DeLarverie. Es gab noch kein Internet, doch ich war auf der Suche nach der Geschichte meiner Leute. Also musste ich mit Menschen sprechen, die bei Stonewall dabei gewesen waren. Stonewall, das war der Aufstand der LSBTIQ-Community gegen Polizeigewalt in New York 1969, Unruhen, die den Grundstein für unsere CSDs heute legten. Ein Freund schickte mich deswegen zu Stormé, die schon vor Stonewall eine lesbische Aktivistin gewesen war.
„Nicht immer bloß ficken und saufen, Baby.“
Nach einer Stunde, in der ich hauptsächlich rauchte und sie redete, hatten wir klargestellt, dass Stormé zwar eine der Rädelsführerinnen der Stonewall Riots, aber nicht diejenige gewesen war, die den sagenumwobenen Ziegelstein vor der Spelunke „Stonewall Inn“ geworfen hatte. („Ich habe nicht mit Steinen geschmissen! Ich habe einen Anfall bekommen und mich mit den Bullen geprügelt. Das ging auch.“). Auch hatten wir klargestellt, wie ich mit meinem Leben weitermachen sollte: „Nicht immer bloß ficken und saufen, Baby. Es gibt Wichtigeres zu tun.“ Aber sie war auch ein bisschen böse auf mich, weil ich, nachdem sie Marsha P. Johnson erwähnt hatte, verständnislos geguckt hatte. („Marsha?! Marsha P. Johnson! … Ihr Küken wisst wirklich einen Dreck! Ganz im Ernst!“) Was stimmte. Ich war 21 und hatte keine Ahnung, wer Marsha P. Johnson war. Dabei war sie erst ein paar Jahre zuvor unter bis heute mysteriösen Umständen gar nicht weit weg von dort, wo wir saßen, ums Leben gekommen. Als ihre Asche im Hudson River verstreut worden war, wurden Straßen in New York gesperrt, damit Platz für all die Trauernden war.
Als ihre Asche im Hudson River verstreut worden war, wurden Straßen in New York gesperrt, damit Platz für all die Trauernden war.
Ich ging etwas bedröppelt nach Hause und lernte, wer Marsha P. Johnson gewesen war: die „Bürgermeisterin der Christopher Street“. Eine Ikone, schon damals, auch wenn sie das heute noch für viel mehr Leute ist. Und, dass sie das verdient hat.
Wie Marsha P. Johnson nach New York kam
Die trans* Frau und zukünftige Drag Queen Marsha wurde am 24. August 1945, vier Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in Elizabeth, New Jersey, geboren. Papa arbeitete am Band in einer Fabrik, Mama war Hausfrau, die Familie tief religiös. Mit fünf begann die zukünftige Heldin Kleider zu tragen, bis den Jungs aus der Nachbarschaft das zu blöd war, sie verprügelten und auch sexuell übergriffig wurden.
1963, mit gerade mal 17 Jahren, ging Marsha mit 15 Dollar und großen Träumen in der Tasche nach New York und konnte endlich erst „Black Marsha“ und dann „Marsha P. Johnson“ sein. Das Johnson kam aus dem Namen eines ihrer Stammlokale, das P. stand für „Pay it no mind“ („Beachte es nicht“).
Das P. stand für „Pay it no mind“ („Beachte es nicht“).
Marshas Leben war ein fortführender Kampf: Sei es die Polizeigewalt gegen Menschen wie sie in der damaligen Zeit, die Gesetze, die es immer noch verboten, dass Drag Queens in der Öffentlichkeit Kleider trugen, die bürgerlichen Vorstellungen, die viele Homosexuelle vom Leben hatten, den alltäglichen Rassismus. Aber sie war von Anfang an sehr sie selbst: Laut, freundlich, wunderschön. Trotzdem hatte sie es dabei nicht so leicht, wie die Queens in „RuPaul’s Drag Race“. Vor sechzig Jahren wäre kein Designer der Welt auf die Idee gekommen, eine Schwarze, mittellose Drag Queen einzukleiden. Daher machte sie es selbst: mit Fetzen aus Second Hand-Läden, Billigschmuck und immer frischen Blumen, die sie bekam, weil sie oft unter den Tischen des New Yorker Blumengroßmarktes übernachtete. Ihr Geld verdiente sie mit kleinen und großen, aber immer künstlerisch einmaligen Auftritten. Und auch mit Sexarbeit. Sie sagte später in Interviews, sie sei bei dieser Arbeit über hundertmal verhaftet worden.
Die Initialzündung der CSDs
Vielleicht war sie deswegen am 24. Juni 1969, dem Beginn der Unruhen vor dem Stonewall Inn, zwei Monate vor ihrem 24. Geburtstag, so wütend auf die Polizei. Sie gilt, neben Stormé, als eine der Mitverursacher_innen der Initialzündung der modernen LSBTIQ-Bewegung in dieser Nacht. So wird immer wieder berichtet, es sei Marsha gewesen, die den ersten Ziegelstein in Richtung der Polizei geworfen hatte.
„Dass es eine Schwarze Frau war, die die Protestmärsche damals angefangen hat, ist heute weitestgehend aus den Köpfen der Menschen verschwunden.“
Aktivist und Podcaster Dominik Djialeu erinnert sich zu ihrem 75. Geburtstag so an Marsha: „Ohne Marsha und ihre Freundin Sylvia Rivera gäbe es den heutigen CSD Pride in dieser Form sehr wahrscheinlich nicht. Marsha hat in der Nacht, in der sie sich gegen willkürliche Polizeigewalt gewehrt hat, den ersten Stein geworfen, der dann später zu den Stonewall Aufständen in New York geführt hat. Von einem Aufstand spüre ich jedoch bei den CSDs heute leider nichts mehr. Und dass es eine Schwarze Frau war, die die Protestmärsche damals angefangen hat, ist heute auch weitestgehend aus den Köpfen der Menschen verschwunden. So besteht das Kernteam des Berliner CSD ausschließlich aus weißen Menschen, die sich nicht ausreichend genug mit den Belangen von Schwarzen und Menschen of Colour auseinandersetzen, was dazu führt, dass der Pride zu einem sehr weißen Pride geworden ist. Natürlich haben wir heute erfreulicherweise mehr Rechte erlangt. Jedoch sind das Rechte, die weißen und privilegierten Menschen zugute kommen. Der Aufstand war jedoch für uns alle gemeint, und ganz besonders für die am stärksten marginalisierten Menschen. Marsha hat uns voran gebracht, ihre Mission ist aber noch nicht erfüllt.“
Alles richtig. Fast. Das Problem mit der Geschichte über Marsha und den Ziegelstein: Da gibt es unterschiedliche Auffassungen. Während manche Augenzeug_innen davon überzeugt sind, dass Marsha den ersten Stein warf, kam sie laut eigenen Aussagen aus späteren Interviews erst um 2 Uhr morgens am Stonewall Inn an. Sie hatte vorher noch ihre Freundin Sylvia Rivera von der Parkbank abgeholt, auf der diese regelmäßig übernachtete. Da war der Aufstand gegen die Polizei bereits in vollem Gange.
„Trans* Menschen spielen damals wie heute eine wesentliche Rolle.“
Auch für trans* Aktivist und IWWIT-Ehrenamtler Manuel Garcia sind Johnson und Rivera untrennbar miteinander verbunden: „Wenn ich an Marsha denke, denke ich auch sofort an Sylvia Rivera. Noch zum 50. Jahrestag von Stonewall müssen wir trans* Aktivist_innen immer noch darüber aufklären, was 1969 wirklich war, wem wir die Revolution zu verdanken haben, und dass es keine „Schwulen- oder Gaybewegung“ war, sondern damals wie heute trans* Menschen eine wesentliche Rolle spielen. Aktivismus ist keine Entscheidung, sondern eine Notwenigkeit und wer diese Notwendigkeit nicht verspürt, hat Privilegien, was auch in unserer LSBTIQ+-Community kritisch hinterfragt werden muss.“
Geschichte und Legende
Dass die beiden in dieser und den folgenden Nächten Rädelsführerinnen der Geschehnisse wurden, bestreitet niemand. Nur darum, was genau passiert ist, ranken sich inzwischen Dutzende von Legenden.
„Die Bewegung wollte „respektabel“ sein. Trans* BPOC Sexarbeiterinnen passten da nicht ins Bild.“
Kein Wunder. Die offizielle Geschichtsschreibung über diese Tage begann schon wenige Wochen danach, mit der Umdichtung der Erzählung. Schließlich wollte man sie benutzen, um den bürgerlichen Homosexuellen zu mehr Akzeptanz zu verhelfen. Das ging nicht mit zwei gender non-conforming BPOC-Sexarbeiterinnen und einer Schwarzen Lesbe als Protagonistinnen. Gabriel_Nox Koenig, Referent_in für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband Trans* e.V., beschreibt diesen Prozess so: „Marsha P. Johnson wurde gemeinsam mit Silvia Rivera und vielen, die die Bewegung initiiert hatten, nur kurz nach ihrem Start aus eben dieser Bewegung gedrängt. Die Bewegung wollte „respektabel“ sein und sie waren Schwarze Sexarbeiterinnen und Sexarbeiterinnen of Colour, und sie waren trans*. Das passte nicht ins Bild. Und deswegen kennen viele LSBTIQA+ Personen Marsha P. Johnsons Namen nicht mehr. Das muss sich wieder ändern.“
Es kam noch schlimmer: Nur drei Jahre später wurden Johnson und Rivera auch ganz offiziell von den Veranstalter_innen des New Yorker Prides gebeten, nicht mehr daran teilzunehmen. Drag Queens seien einfach zu kontrovers, um mit ihnen Politik machen zu können. Natürlich kamen die beiden trotzdem. Und sagten den Anwesenden, was sie von ihnen hielten. Heiner Schulze vom Vorstand des Schwulen Museums erklärt, warum es vielleicht auch nicht so wichtig ist, ob Marsha den berühmten Ziegelstein denn nun geworfen hat, oder nicht: „Stonewall, das nicht der erste Protest queerer Menschen in den USA gegen Polizeigewalt und Diskriminierung war, sollte nicht einfach nur als vergangenes, abgeschlossenes Ereignis historisiert werden. Stattdessen ist Stonewall eher als Impetus zu verstehen, sich gegen Ungerechtigkeiten lautstark aufzulehnen, genauso wie es Marsha über Jahrzehnte tat.“
„Stonewall sollte nicht einfach nur als vergangenes, abgeschlossenes Ereignis historisiert werden.“
Marsha kümmerte sich Zeit ihres Lebens um Menschen, die waren wie sie und machte sich für sie stark, wo immer sie konnte: Sie war Gründungsmitglied der Gay Liberation Front und eine lautstarke Teilnehmerin am GLF Drag Queen Caucus. Zudem gründeten Rivera und sie die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) und 1972 das STAR House, dessen Familienangehörige trans* und gender non-conforming Jugendliche aus BPOC und Latinx-Communitys waren.
Ihre Arbeit für Latinx und BPOC macht sie auch zu einer Heldin vieler aktueller Diskurse. Unter einem Facebook-Post über Marsha haben wir gefragt, wer Marsha P. Johnson bereits kannte und unser Facebook-Fan Lisa gab zu: „Ich hab tatsächlich erstmals im Zuge der aktuellen BLM-Bewegung von ihr gehört, wie ich etwas beschämt zugeben muss. Stonewall war mir ein Begriff, klar, aber Marsha war mir gegenüber zuvor noch nie namentlich erwähnt worden. Das ist sehr traurig und schade, da wir ihr alles zu verdanken haben. Wieder der Beweis: Representation Matters!“
Aktivismus in oft desolaten Lebensumständen
Und weil auch Marsha das wusste, war sie, als AIDS in den New Yorker Communitys unerbittlich zuschlug, auch bei ACT UP dabei. Sie hat in den zwanzig Jahren nach Stonewall jede Form von Protest und Aktivismus mit-begründet, derer wir uns heute noch bedienen. All das ohne öffentliche Förderung, und in oft desolaten Lebensumständen. Aber es ging ihr dabei eben nicht nur um sich: „Wir sind daran alle beteiligt und können es nur zusammen tun“, war ihr Lebenscredo. Kurz nach dem New Yorker Pride 2002 wurde ihre Leiche gefunden. Die Umstände ihres Todes sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Dass wir heute wissen, wie wichtig Marsha für uns alle war, ist vor allem zwei Filmen geschuldet: „Pay it no Mind“ von 2012 und „The Death and Life of Marsha P. Johnson“ von 2017. Beide Dokumentationen zeigen sie als zentrale Figur der New Yorker Szene und die Pionierin, die sie war. Und als künstlerische Ikone, der Andy Warhol genauso Respekt zollte, wie jede Drag Queen seitdem.
„Marsha hat Community gelebt.“
Am 24. August 2020 wäre sie 75 Jahre alt geworden. Ihr Leben ist heute bedeutender denn je, weil Morde an trans* Frauen of Colour auch heute noch Alltag sind – nicht nur in den USA – und weil die Trump-Regierung auch 2020 aktiv Politik gegen LSBTIQ macht. Weltoffenheit, Toleranz und Miteinander waren Marshas Credo. Ihr Vermächtnis fasst Ronald Zinke vom CSD Deutschland e.V. so zusammen: „Marsha hat in ihrem Kampf – in ihrem Aktionismus gezeigt, was Community eigentlich heißt und bedeutet. Sie hat es geschafft, alle zu vereinen und nicht zu differenzieren. Sie hat Community gelebt.“
Es ist schön, dass so viele Leute inzwischen wissen, wer Marsha P. Johnson war und was sie getan hat. Lasst sie uns feiern. Nicht nur zu ihrem Geburtstag.