Auch an Freiheiten muss man sich erst gewöhnen. Zum Beispiel daran, „einfach ich zu sein. Ohne Tarnung“. In Litauen war es Algis gewohnt, bestimmte Regeln zu befolgen: „Du kannst nicht über alles reden. Manchmal musst du deine Freunde meiden. Auch musst du vorsichtig sein und darfst nichts Verräterisches liegen lassen. Deine Lügen müssen perfekt sein. Und deine Treffpunkte musst du gut wählen.“ Er hatte gelernt, mit der Angst zu leben und sich zu schützen. Als Austauschstudent in Deutschland musste er nunmehr lernen, diese eingeübten Verhaltensweisen abzulegen: in der Öffentlichkeit nicht mehr unentwegt die eigenen Bewegungen und die Stimme zu kontrollieren, und sich ständig vorsichtig umzublicken. Soviel schwule Selbstverständlichkeit überfordert den 19-Jährigen manchmal allerdings. „Alle scheinen es gleichgütig hinzunehmen, wenn sich auf dem CSD-Umzug Schwule und Transsexuelle in aller Öffentlichkeit nackt abschlecken. Das ist sogar mir zu viel und echt peinlich“, sagt Algis.
Algis ist einer von acht Vertreter_innen der LGBT-Community aus Polen, Lettland, Rumänien, Ungarn und Litauen, die in dem dokumentarischen Band „Osteuropaexpress“ von Marianne Zückler porträtiert werden. Der Untertitel „Erzählungen über Freiheit, Liebe, Sexualität und Ausgrenzung“ umreißt das Spektrum dieser Erfahrungsberichte und verrät jedoch noch wenig über Zücklers Arbeitsweise.
Die Berliner Autorin hat für ihren „Osteuropaexpress“ ausführliche Interviews mit schwulen, lesbischen, bisexuellen und trans* Menschen in diesen Ländern geführt und aus diesen Einzelschicksalen (sowie ergänzend recherchierten Fakten) exemplarische, aber gleichermaßen individuelle und authentische Lebensgeschichten verfasst.
Zückler hat diese Ich-Erzählungen abschnittweise ineinander verschränkt und so beispielsweise die Aussagen zu Kindheitserinnerungen, zu ersten sexuellen Erfahrungen, zu Coming-out-Erlebnisse, zu queerem Aktivismus und beruflichen Perspektiven kapitelweise sortiert.
Wirklichkeitsnaher Einblick
Das erfordert von Lesenden etwas Aufmerksamkeit, um sich so nach und nach ein Bild der einzelnen Personen machen zu können. Zugleich erfüllt es den von der Autorin provozierten Zweck, die Parallelen wie die Unterschiede in den Erfahrungen und Haltungen der einzelnen Protagonist_innen herauszuheben. Das Buch liefert so insbesondere westeuropäischen Leser_innen einen wirklichkeitsnahen, weil auf Alltagserfahrungen basierenden Einblick in die Lebensverhältnisse von LGBT in diesen Staaten des ehemaligen Ostblocks und erzählt von deren Hoffnungen, Sorgen und Kämpfen.
Bei den Erfahrungen beim Coming-out, bei der Suche nach der eigenen sexuellen Identität, oder beim Umgang untereinander in der LGBT-Community dürften sich manche_r Leser_in selbst auch wiedererkennen. Doch die Protagonist_innen berichten auch von Diskriminierung, Verfolgung und Unterdrückung, wie man sie hierzulande in dieser Form und in diesem Ausmaß derzeit glücklicherweise nicht (mehr) kennt.
Gehen oder bleiben?
Diese Frage stellen sich letztlich alle im Buch Porträtierten irgendwann in ihrem Leben, und sie haben recht unterschiedliche Antworten darauf. Der Mittvierziger Kazmierz etwa ist sauer auf all jene Schwulen, Lesben und trans* Menschen in Polen, die ins Ausland gehen, anstatt im eigenen Land für Toleranz und für die eigenen Rechte zu kämpfen. „Wie soll sich eine Gesellschaft weiterentwickeln, wenn diese Generation emigriert?“, fragt er. Die Warschauerin Anna sieht die Lebenssituation im eigenen Land in einen größeren Kontext. „Es geht uns nicht schlecht“, sagt sie. LGBT müssten in Polen keine Angst mehr haben. „Wir werden nicht verfolgt wie in Russland, Afrika oder in den arabischen Ländern. Wir verschwinden nicht in Lagern, ohne dass unsere Angehörige wissen, wo sie uns suchen sollen oder ob wir überhaupt noch leben.“ Ihre Erwartungen an die Community klingen aus unserer westlichen Perspektive geradezu ernüchternd und defensiv: „Wir sind eine Minderheit. Wir müssen uns anpassen.“ Doch sie glaubt, dass LGBTs Schritt für Schritt ihre Situation verbessern können.
Bis Lesben und Schwule in Litauen nicht mehr diskriminiert und sie heiraten oder Kinder adoptieren können, wird noch eine ganze Weile dauern, ist sich Algis sicher. „Aber die Lebenssituation sei längst nicht so schlimm, wie in den Medien und Foren dargestellt. Und auch Kazmierz hängt diese „Tendenz zum Märtyrertum“ zum Halse heraus. Die Opferrolle lasse sich politisch zwar gut instrumentalisieren, doch diese Form der Selbsterniedrigung ist für ihn unerträglich. Und fast noch schlimmer ist für ihn „diese westliche gönnerhafte Haltung“. Algis will nicht immer nur als ein „bedauernswerter Schwuler aus dem Baltikum“ wahrgenommen werden. Für ihn ist das keine Solidarität. Und auch der mit einem Deutschen liierte Pole Kazmierz schlägt in diese Kerbe: „Wir sind keine Verlierer oder Opfer. Wir sind Macher. Wir sind selbstbewusst und kreativ.“
Was Westeuropäer von LGBTs aus Osteuropa lernen können
Anstatt sie nur zu bemitleiden, könnten LGBTs in den westeuropäischen Ländern und deren Organisationen von ihren osteuropäischen Brüdern und Schwestern sich vielleicht sogar etwas abschauen. Zum Beispiel, wie man mit Krisen umgeht und Bündnisse schmiedet. Für Breda aus Budapest ist die LGBT-Community in erster Line dazu da, sich einander Mut zu machen, sich gegenseitig zu fordern und zu mobilisieren. Wie das im Alltag und der politischen Arbeit aussieht, blitzt in diesen acht Lebenserzählungen immer wieder auf. Wenn man sich so manche der aktuellen Debatten, Grabenkriege und Zerwürfnisse innerhalb der deutschen LGBT-Bewegung so anschaut, wünschte man sich, dass Bredas eigentlich überraschende und schlichte Erkenntnis hierzulande wieder mehr ins Bewusstsein gelangte.
Marianne Zückler: „Osteuropaexpress. Erzählungen über Freiheit, Liebe, Sexualität und Ausgrenzung“. Europa Verlag, 240 Seiten, Klappenbroschur, 16,90 Euro.