Im Kreise der Familie – Der neue Film „1985“

Der etwas andere Weihnachtsfilm: In seinem berührenden, unaufgeregt und atmosphärisch dicht erzählten Drama „1985“ blickt Regisseur Yen Tan zurück in den Beginn der HIV-Epidemie und erzählt von den Schwierigkeiten eines doppelten Coming-outs.

Wann, wenn nicht jetzt. Das Weihnachtsfest scheint für Adrian der ideale Zeitpunkt, um all der Heimlichtuerei und den Lügen ein Ende zu setzen. Ein Befreiungsschlag unterm Christbaum also. Die lange Anreise aus seiner Wahlheimat New York City in seine Heimatstadt in Texas hat er schon hinter sich gebracht, nun braucht es nur noch den richtigen Moment und den Mut, sich gegenüber seinen Eltern und seinem kleinen Bruder zu offenbaren.

Die Kälte der Herkunftsfamilie…

Warum sich der Mittzwanziger Adrian damit so schwer tut, wird für uns Zuschauer schon in der ersten Szene klar. Die Begrüßung durch Adrians Vater am Flughafen zeichnet sich nicht gerade durch Herzlichkeit und Wärme aus. Dieser Sohn ist ihm fremd geworden. Und auch die gezwungen entspannte Atmosphäre beim Abendessen im Familienkreis schnürt einem förmlich die Luft ab. Aus dem Radio blökt ein christlicher Prediger.

Der Elefant im Raum

Mit gespielter Beiläufigkeit macht Adrians Mutter seine alte Schulfreundin zum Thema und hat insgeheim schon ein Date ausgekungelt. Der Elefant im Raum, Adrians Schwulsein, sitzt allenthalben dick und fett mit am Wohnzimmertisch, dass ihn eigentlich niemand ignorieren kann und doch reden alle nur Drumherum. Zudem belastet Adrian noch ein ganz anderes Geheimnis: Er ist an Aids erkrankt. Und das im Jahr 1985.

Was Aids Mitte der 1980er Jahre bedeutet

Damals bedeutet diese Diagnose fast unweigerlich einen nahen Tod. Es ist das Jahr, in dem in den USA der erste HIV-Test zugelassen wird und mit AZT erstmals ein vielsprechendes HIV-Medikament in einer Studie erprobt wird. Und es ist das Jahr, in dem mit Rock Hudson nicht nur ein Hollywoodstar starb, sondern eine nationale Ikone und allein in den USA 13.000 Aidstote zu beklagen sind. All das wird in Yen Tans Film nicht benannt, nicht einmal die Worte Aids, Seuche oder Epidemie werden ausgesprochen.

Großartige Schauspieler_innen…

Der 1975 geborene Regisseur Yen Tan schildert diese dramatische Phase der US-Homosexuellen-und Aidsgeschichte, heruntergebrochen auf ein individuelles Schicksal. Zusammen mit seinem Ko-Autoren und Kameramann Hutch hat er sich sicht- und spürbar die Zeit genommen, nicht nur sehr intensive und stimmungsvolle Bilder im Schwarz-Weiß-Retro-Style gedrehten Film zu finden. Gleiche Sorgfalt wurde auch aufs Drehbuch und auf subtile Zwischentöne in der Inszenierung gelegt. Insbesondere Cory Michael Smith als Adrian und Virginia Madsen als seine Mutter legen selbst in die beiläufigsten Regungen und zartesten Gesten soviel Ausdruck, dass tatsächlich ein Gesichtsausdruck mehr zu erzählen vermag, als es Worte jemals könnten.

…und einfühlsam gezeichnete Charaktere

Yen Tan braucht für seine Geschichte keine dramatische Wendung. Er nähert sich seinen Figuren, und zwar ausnahmslos allen, mit großer Einfühlsamkeit. Ob Adrians Vater (Michael Chiklis), der Vietnam-Veteran mit seinem rückständigen Bild von Männlichkeit, die stets den Ausgleich suchende Mutter oder Adrians Jugendfreundin Carly (Jamie Chung) – ihnen allen widmet Yen Tan jeweils eine Szene, in der sie tatsächlich aussprechen, was sie umtreibt.

Der Film „1985“ scheint aktueller denn je

Das vielleicht Erschreckende dabei: Ob Stigmatisierung von schwulen Männern und HIV-Positiven, oder die reaktionäre homophobe Haltung von Evangelikalen im Mittleren Westen der USA oder im Süden der Bundesrepublik (man denke da nur an Hedwig Beverfoerdes „Demo für Alle“-Bewegung und die „Genderwahn“-Debatten im Umfeld der AfD) – vieles scheint seit 1985 nicht wirklich besser geworden und manches bereits wieder im Rückschritt begriffen zu sein.

Am Ende kommt alles anders

Aber schafft Adrian schließlich den Befreiungsschlag eines doppelten Coming-outs? Kommt es zum großen Knall? Soviel sei verraten: Es kommt alles ganz anders, viel leiser und subtiler. Und das ist berührend und traurig zugleich. Das hat unter anderem mit Adrians weitaus jüngeren Bruder Andrew (Aidan Langford) zu tun. Selbst mit seinen vielleicht 14 Jahren hat er den Vater bereits enttäuscht, ist aus der Football-Mannschaft ausgetreten, spielt stattdessen Theater – und ist heimlich Fan von Madonna!

Adrian und auch wir Zuschauer ahnen bereits, dass dieser Junge eines Tages seinen Eltern und seiner Heimatstadt wird den Rücken kehren müssen, um der sein zu können, der er wirklich ist. Auf welche Weise Adrian ihn bei diesem Schritt vorausschauend unterstützt, ist einfach herzerwärmend.

„1985“ (USA 2018), Regie Yen Tan. Mit Cory Michael Smith, Aidan Langford, Michael Chiklis, Virginia Madsen, Jamie Chung.

81 Minuten, englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

DVD erschienen in der Edition Salzgeber.

Als Video-on-Demand bei vimeo.

Hier geht’s zum Trailer.

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