Das Fotoprojekt „All the people“ zeigt Menschen, die „Geschlecht“ auf ihre eigene Art definieren und ausleben. Jana Maria Knoop schildert ihre ganz persönlichen Gedanken beim Betrachten der Bilder – und während der Ausstellungseröffnung.
Seit Juli läuft in der NEUEN GALERIE BERLIN die Ausstellung „All the people“, und ich wurde gebeten, ob ich nicht meine Eindrücke der Fotografien und des Eröffnungsabends in Worte fassen möchte. Bei „All the people“ handelt es sich um ein international angelegtes Buchprojekt des Ehepaars Bernd Ott (Fotograf) und Emily Besa (Autorin und Kreativberaterin) zum Thema Transgender – ein Begriff, der hierzulande eher weniger als Selbstbeschreibung verwendet wird, aber durchaus als Möglichkeit herhalten darf. Ich bevorzuge das Wort trans*.
Die Ausstellung hatte schon eine halbe Stunde geöffnet, als ich in der Ludwigkirchstraße 11 in Berlin-Wilmersdorf eintraf. Die Galerie war zu diesem Zeitpunkt bereits bis zum Rand mit zahlreichen Besucher_innen, neugierigen Blicken und gesprächigen Worten gefüllt. Natürlich waren die „Sternchen“ des Abends auch schon da: Die Fotografien reihten sich in der relativ kleinen Galerie dicht an dicht an den beiden Längsseiten entlang, hinein in die Tiefe des Raumes. Sie hielten dabei immer ein wenig Abstand voneinander, sodass jedes Bild Aufmerksamkeit von jeder_jedem einzelnen Betrachter_in genießen konnte.
Gleich zu Beginn begrüßte mich die 5-jährige „Birdie“ mit einem herzergreifenden und tiefehrlichen Lächeln. Sie schaute aus ihrem Bilderrahmen in Richtung meiner Füße. Es kam mir vor wie ein schnelles, aber sehr privates Gespräch zwischen uns. Ich überprüfte daraufhin kurz meine Standposition, tippte mit dem rechten Fuß auf den Boden. Fest und sicher. Sehr gut. Dann kann es ja losgehen.
Für die Präsentation der einzelnen Fotografien wurden unterschiedliche Stile gewählt. Es gab großformatige Bilder ohne Rahmen, die teilweise mit Textauszügen aus dem Fotoband versehen waren, und es gab kleinformatige Abzüge, die mit raumschaffendem weißen Passepartout und einer schwarzen Rahmung stilvoll präsentiert wurden. Ganz bewusst verzichte ich an dieser Stelle (sowie im weiteren Verlauf meines Berichts) auf die Beschreibung der abgebildeten Menschen. Beurteilungen aufgrund von Äußerlichkeiten und der damit oft verbundene Wunsch nach geschlechtlicher Zuordenbarkeit stellen unter anderem für viele trans* Menschen eine gewaltvolle Erfahrung dar. Außerdem, finde ich, sollen die Fotografien für sich selbst sprechen. Aber wie bereits angesprochen, hingen die Bilder sehr dicht nebeneinander, und ich hätte mir für die einzelnen Werke ein Mehr an Zwischenraum gewünscht, aber vielleicht war das auch nur mein persönlicher Eindruck, da ich mich recht schnell von angrenzenden Nahobjekten ablenken lassen kann.
„ You can’t judge a book by its cover“
Im Laufe des Abends verbrachte ich mehrere Runden damit, die Bilder auf mich wirken zu lassen. Während des ersten Spaziergangs hatte ich durchgehend das Gefühl – aber auch die sich festhaltende Frage im Kopf – was an dieser Ausstellung denn nun besonders ausstellungswürdig ist. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als blätterte ich durch ein Familienalbum oder schaute mir Urlaubsfotos von Freund_innen und Bekannten an. Die Menschen auf den Bildern erschienen mir schon nach kurzem Anblick als mir nahestehende Personen, als Menschen meiner Lebensmittelpunkte. Dabei war es an manchen Stellen gar nicht so einfach, sich einen guten Betrachtungswinkel auf die Exponate zu erobern, denn im Ausstellungsraum tummelten sich ja die vielen Besucher_innen, jeweils mit einem Glas Wein in der Hand und in diverse Gespräche vertieft. Ob nun über die Ausstellung oder über die Dinge des eigenen Alltagsgeschehens geredet wurde, kann ich an dieser Stelle für interessierte Leser_innen nicht klar benennen, da ich lediglich Wortfetzen wahrnahm. Die Fotografien an den Wänden schienen jedenfalls ziemlich unbeeindruckt von diesen Gesprächen. Mir erging es da sehr ähnlich.
Und unbeeindruckt schien auch „Becky“ zu sein, die mir aus ihrem_seinem Bild heraus die Worte „you can´t judge a book by its cover“ entgegenflüsterte. Durch diesen Satz sah ich mich unmittelbar zu einem zweiten Spaziergang aufgefordert, bei der ich spürte, dass ich Nähe zu einigen Bildern entwickelte – eine Nähe, die mir vertraut, nahezu familiär vorkam.
Die großformatigen Fotografien konnten durch ihre Ausmaße und die sie begleitenden Textauszüge eine noch größere Tiefe entwickeln. Das war auch beim Durchblättern des zur Ansicht ausgelegten Fotobuchs sehr deutlich zu spüren. Die ausführlichen Texte schenkten der_dem Betrachter_in nämlich einen weiteren ungeschönten Einblick in die Biografien der 39 abgelichteten Menschen. Einen Einblick auch über die Grenzen der mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellungen von „Frauen“ und „Männern“ hinaus. Ich dachte einmal mehr an meine vielen verschiedenen Begegnungen mit Menschen, bei denen das Wissen um die geschlechtliche Identität einfach keine entscheidende Rolle spielt.
Diesem Gedanken nachgehend wurde ich von der Ankündigung der Eröffnungsreden in die Realität zurückgerufen, woraufhin ich den Worten der Redner_innen zuhörte und meine bis dahin positive Stimmung zu schwanken anfing, manchmal sogar zu kippen drohte. Ja, oberflächlich betrachtet mochte das Gesagte wohl ganz in Ordnung gewesen sein, auch sehe ich die guten Absichten dahinter. Mir zeigt es aber, welche Position zum Beispiel trans* Menschen meistens einnehmen (müssen). Oft werden sie unsichtbar gemacht, kommen einfach (noch) nicht vor. Oder sie werden als „exotisch“ und „anders“ dargestellt, als aufregend und spannend. Es war nicht das erste Mal, dass vor meinem inneren Auge das Bild eines Zootiers entstand – über das gesprochen, das angestarrt oder wie auf einer „Erlebnistour“ konsumiert wird.
Wer jetzt Zweifel oder aufsteigenden Unmut aufgrund meiner Äußerungen in sich spürt, die_den möchte ich sogleich herzlich dazu einladen, diese hervorragende Chance zu nutzen, sich die Frage nach der eigenen Positionierung innerhalb der Gesellschaft zu stellen. Ausgrenzungs-, Abwertungs- und Diskriminierungsmechanismen sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar und auch nicht immer aushaltbar, sobald sie benannt oder offengelegt werden.
Und ja, natürlich hatte der Auftritt des sich selbst als „FtM“ (steht für „Female to Male“, Anm. d. Red.), „Selfmade Man“ und Trans-Aktivist bezeichnende Benjamin Melzer den Anwesenden Raum für alle aufkommenden Fragen geboten. Jedoch blieb bei mir hinterher der etwas bittersüße Beigeschmack einer gut gewählten Selbstvermarktungsstrategie haften. Das ist durchaus legitim und nachvollziehbar, aber mit Aktivismus und Lobbying für trans* hat das für mich nicht viel gemein. Am Ende der gesagten Worte, der Fragen und Antworten blieb ich in dem Raum voller Menschen mit dem Gedanken stehen, dass wir eben (noch) nicht in einer Gesellschaft leben, die die Existenz von zum Beispiel trans* Menschen automatisch mitdenkt.
„Stärke. Widerstandskraft. Aber auch Erschöpfung.“
Mein Anlass für den Besuch der Ausstellung waren aber die Bilder, deshalb wollte ich ihnen meine Aufmerksamkeit schenken. Also schnappte ich mir auch ein Glas Weißwein, lud mir ein paar Käsewürfel auf die Hand und widmete mich jedem einzelnen Bild ein weiteres Mal. Die Redebeiträge hatten im Übrigen dazu geführt, dass ich mich den Bildern noch stärker verbunden fühlte. Vielleicht ist Solidarität das passende Wort dafür.
So verging die Zeit, der Abend neigte sich dem Ende zu, die Besucher_innen verließen nach und nach die Galerie, und der Raum füllte sich wieder mit Weite. Nun bot sich mir ein freierer und großzügigerer Blick auf die Fotografien an den Wänden. Jetzt erst wurde mir glasklar bewusst, was die Bilder für mich symbolisierten: Stärke. Widerstandskraft. Aber auch Erschöpfung.
Ja, es war diese erschöpft wirkende Melancholie in den Augen der Protagonist_innen, die mich ansprach. Auf mich wirkte es, als wären sie jetzt endlich wieder unter sich und hätten endlich ein bisschen Ruhe von der Welt, für die sie so oft „anders“ waren oder in der sie so oft „anders“ gemacht wurden. Ich bedankte und verabschiedete mich bei den Bildern und machte mich ebenfalls auf den Heimweg. Um mit den Worten unter dem Bild von Mirella zu schließen: „On good days I love being trans.“
Die Ausstellung ist noch bis zum Samstag, 13. August zu sehen in:
NEUE GALERIE BERLIN
Ludwigkirchstraße 11
10719 Berlin
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag
von 10:00 – 18:00 Uhr
Samstag
von 10:00 – 13:00 Uhr