„Das Virus hat meine Biografie geprägt“, sagt René. Der 48-Jährige lebt seit 1993 mit HIV – und seit fast 18 Jahren als Rentner und von Gelegenheitsjobs. Trotzdem blickt René ohne Neid auf jüngere HIV-Positive. Er findet es großartig, dass sie dank besserer Medikamente ein normales Berufsleben führen können. Wir haben aufgeschrieben, was uns René erzählt hat.
Als ich meinem Chef offenbarte, dass ich positiv bin, schmiss er mich raus. Ich war 25 Jahre alt und mein bisheriges Leben brach förmlich zusammen. Mit meiner Stelle als Verkäufer verlor ich zugleich meine Wohnung, denn die gehörte der Firma und war Teil des Arbeitsvertrags. Zum Glück nahm mich die AIDS-Hilfe Stuttgart in ein Wohnprojekt auf. Andernfalls hätte ich zurück aufs Land ziehen müssen – in mein Kinderzimmer bei den Eltern.
Nach fünf Jahren Arbeit war Schluss
Ich begann, ehrenamtlich für die AIDS-Hilfe zu arbeiten und fasste so wieder Mut. Nach ein paar Monaten boten mir die Kollegen eine Stelle an. Meine Aufgaben bestanden unter anderem darin, Veranstaltungen von Selbsthilfegruppen sowie die Positiventreffen der Region zu organisieren. Fünf Jahre lang ging das gut. Dann bekam ich handfeste Symptome von AIDS. Eine Therapie lehnte ich ab: Zu viele Bekannte waren an den Nebenwirkungen der damaligen Medikamente elend zugrunde gegangen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als eine Schwerbehinderung von 100 Prozent feststellen zu lassen. Und so wurde ich mit 30 Jahren Rentner.
Jobs in Szenebars
Die Rente hat von Anfang an nur für das Nötigste gereicht. Ohne Zusatzjobs hätte ich beispielsweise nicht länger in Stuttgart wohnen können. Also verdiente ich mir in Szenebars etwas hinzu. Ehrlich gesagt wäre mir ohne Arbeit auch ziemlich langweilig geworden. Teilweise hat mich die nächtelange Arbeit zwar sehr angestrengt. Aber meine Chefs und Kollegen hatten Verständnis dafür, dass ich öfter krank wurde als sie. Und als ich meinen Ehemann kennenlernte, wurde sowieso alles besser. Ich bin 2006 zu ihm nach Brandenburg gezogen und erstaunlich glücklich auf dem platten Land. Wer hätte das gedacht.
HIV gestern und heute
Mit der Therapie habe ich erst 2009 begonnen, also fast 20 Jahre nach der Infektion. Ich weiß, dass viele Menschen das nicht nachvollziehen können. Ohne die Tabletten wäre ich ja ziemlich sicher tot. Aber aufgrund meiner Erfahrungen aus den 90er-Jahren stehe ich der Therapie noch immer kritisch gegenüber. Medikamente, die man täglich nehmen muss, summieren sich zwangsläufig irgendwann zu „Gift“. Das ist meine Meinung. Die muss man nicht teilen.
Andererseits sehe ich sehr wohl, wie unbeschwert Jüngere ihre Tabletten nehmen. Für sie gehört das zum Alltag wie Zähneputzen. Und das ist gut so! Anders als bei mir und vielen meiner Freundinnen und Freunde bedeutet die Diagnose HIV nicht mehr, dass man keinen Beruf mehr ausüben kann. HIV-Positive gehen ganz normal zur Arbeit, erwerben Rentenansprüche und legen Geld fürs Alter zurück. Das war und ist für mich undenkbar.
Erfolgserlebnis: Mini-Job als Abendkellner
Nach meinem Umzug in die Brandenburgische Provinz bin ich zum Jobben nach Berlin gefahren, zuletzt fünf Jahre lang in eine schwule Sauna. Vom Trinkgeld konnte ich mir immer mal etwas gönnen. Stadtreisen beispielsweise mag ich sehr. Seit sechs Monaten habe ich erstmals seit meiner Kündigung als Verkäufer einen sozialversicherungspflichtigen Job. Ich arbeite auf 450-Euro-Basis 40 Stunden im Monat als Abendkellner. Nach mehr als 100 Bewerbungen und nur zwei Vorstellungsgesprächen war die Zusage des Hotels für mich ein echtes Erfolgserlebnis. Mein Arbeitgeber weiß, dass ich positiv bin. Anders lässt sich mein komischer Lebenslauf auch kaum interpretieren: Anstellung bei der AIDS-Hilfe und dann ab 30 Rentner? Nachtigall, ick hör dir trapsen.
Sorge und Zuversicht
Das Virus hat mein Leben bestimmt, aber nicht verkorkst. Klar fehlt es mir an Geld und schönen Dingen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen und denke auch nicht ständig darüber nach, was aus mir hätte werden können. Das Einzige, was mir Angst macht, ist der mögliche Verlust meiner Rente. Als Schwerstbehinderter muss ich alle zwei, drei Jahre meine Ansprüche prüfen lassen. Sollten die auf die Idee kommen, ich sei gesund genug zum Arbeiten, wird es schwierig. Einen echten Job zu finden, und sei es nur halbtags, wäre aussichtslos. Mir bliebe nur Hartz IV.
Vielen meiner langzeitpositiven Freundinnen und Freunde geht es ähnlich. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Sorge und Zuversicht. Wenn wir einander beim Positiventreffen begegnen, überwiegt aber die Freude. Aus unserer Solidargemeinschaft der Totgeweihten ist eine Art Ferienclub geworden.
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