Thilo ist HIV-positiv und hatte eine Depression. Inzwischen ist sie überstanden. In der Reportage erfahrt ihr, wie er aus der Krise kam und wie es ihm heute geht.
„HIV-positiv“ – viele Menschen fallen nach dieser Diagnose in ein tiefes Loch. Thilo nicht. Er bekam Lust, sich ein Tattoo stechen zu lassen. „Die Diagnose hat mich anfangs nicht so beschäftigt“, berichtet der Brandenburger, „obwohl ich damals damit gerechnet habe, nur noch fünf bis sechs Jahre zu leben.“ 1997 waren zwar schon wirksame HIV-Medikamente auf dem Markt, aber die Therapien waren noch nicht so weit verbreitet wie heute
Dass er an Depressionen leidet, hat Thilo erst vier Jahre später erfahren, als sein Körper zu streiken begann. Es lief nichts mehr, zumindest nicht auf dem Klo. Blase voll, Nierenschmerzen – aber es kam kein Tropfen.
Nach Wochen mit etlichen Arztbesuchen, einem Krankenhausaufenthalt sowie dem Legen und Ziehen eines Dauerkatheters nahm die Blase langsam tröpfelnd ihren Dienst wieder auf, vorerst nur „mit viel Ruhe und Meditationsübungen“. Offizielle Diagnose: autonome Neuropathie (Nervenerkrankung) der Blase mit unklarer Ursache – und eine schwere Depression.
Vier Jahre lang hatte Thilo seine HIV-Infektion einfach hingenommen. Aber mit dem Harnverhalt war ein Punkt erreicht, an dem die Zweifel wie eine Welle über ihm zusammenbrachen. „Du stellst dir die Sinnfrage“, berichtet Thilo: „Warum eigentlich ich?“
Es begann der typische Sorgenkreislauf einer Depression. „Deine Gedanken sind wie in einem Kreisverkehr“, versucht Thilo die Krankheit zu beschreiben. „Du findest keinen Ausgang mehr, in keiner Richtung, weder um zu frühstücken noch um ins Kino zu gehen. Ich hatte meist das Gefühl: Dann mache ich lieber gar nichts, es hilft ja eh alles nichts.“
Mithilfe einer Gesprächstherapie bei einer Psychotherapeutin gelang ihm der Ausbruch aus diesem Teufelskreis. „Allein drüber zu reden hat schon vieles erleichtert“, sagt Thilo. „Beim Sprechen konnte ich mich selbst noch einmal in Ruhe mit den Themen auseinandersetzen und Dinge entdecken, die das Leben erträglicher machen.“
2011 hat Thilo das Ganze noch einmal erlebt – aber nicht als Erkrankter, sondern als Angehöriger. Denn auch sein Lebenspartner René leidet an einer Depression. Thilo achtet daher darauf, ihrem gemeinsamen Alltag eine Struktur zu geben. „Man muss sich kleine Ziele für den Tag stecken, die man einhalten kann – nur nicht von der einen Sofaecke in die andere rutschen!“
Zu den gemeinsamen Ritualen gehört, pünktlich aufzustehen, um ihre Schafe zu füttern. Und die Hühner. 50 Stück haben die beiden, sie sind sogar Mitglieder im Geflügelzüchterverein der Nachbarstadt Neustadt (Dosse). Seit einigen Jahren leben sie zu zweit auf dem Land in Brandenburg. Weitere Stationen in ihrem Tagesablauf: Frühstücken, mittags Kaffee und ein Stück Kuchen, abends was Warmes. Kurz: die Mahlzeiten einhalten.
Zur Zuwendung gehört auch, dass Thilo seinen Freund daran erinnert, seine HIV-Tabletten zu nehmen. Auf dem Höhepunkt seiner Depression hatte René damit aufgehört. „Dass er mich nicht mehr beschimpft, wenn ich sie ihm hinstelle, ist für mich ein Zeichen, dass er weiterleben möchte“, sagt Thilo.
Um das Gleichgewicht zu halten, hat Thilo sich psychotherapeutische Unterstützung von der Krankenkasse eingefordert. „Es ist gut, wenn jemand von außen draufschaut“, sagt er. „Der entdeckt auch Dinge, die Angehörige nicht sehen können oder nicht sehen wollen.“ Zum Beispiel die Gefahr, sich im Umgang mit einem depressiven Partner aufzureiben. „Man muss aufpassen, dass man sich keine Überverantwortung auflädt“, erklärt Thilo. „Ich versuche, mein eigenes Leben weiterzuleben und nicht von 0 bis 24 Uhr René zur Seite zu stehen.“
Zu Thilos eigenem Leben gehört, dass er sich ehrenamtlich bei der Präventionskampagne ICH WEISS WAS ICH TU engagiert. Zudem wurde er im Mai 2014 in den Gemeinderat von Sieversdorf gewählt, mit den drittmeisten Stimmen. „Dafür dass wir erst zugezogen sind, ist das echt viel“, freut sich Thilo. Überhaupt ist 2014 ein gutes Jahr: Gesundheitlich geht es Thilo immer besser, so dass er für sich den Entschluss gefasst hat: Rente ist keine Einbahnstraße. Gemeinsam mit seinem Arbeitgeber, bei dem er freigestellt als Betriebsrat beschäftigt ist, hat er geschaut, welche Alternativen es gibt. Möglich wurde eine komplett neue Stelle als Hauswirtschaftskoordinator und Beauftragter der Geschäftsführung für Arbeitssicherheit, statt geringfügig, nun eine Teilzeitstelle. Es geht also bergauf!
Trotzdem muss Thilo auch immer wieder Kraft tanken, indem er sich positive Erlebnisse ins Gedächtnis ruft. Eine dieser schönen Erinnerungen: ihre Hochzeit in der Kirche ihres brandenburgischen Heimatdorfes vor vier Jahren. Der Gemeindekirchenrat hatte einmütig beschlossen, dass auch zwei Männer Anspruch auf einen Traugottesdienst haben. „Fast 150 Gäste waren da“, erzählt Thilo, die eine Hälfte eingeladen, die andere neugierige Nachbarn aus dem Dorf. Zum Glück hatten wir genügend Kuchen bestellt.“ Dann überlegt er kurz und sagt: „Die Hochzeit und die gemeinsamen Jahre mit René, das sind definitiv positive Erlebnisse.“