Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) hat heute ein Positionspapier und eine Pressemitteilung zur Strafbarkeit der HIV-Übertragung veröffentlicht. Klare Botschaft: Die Verantwortung bei selbstbestimmten sexuellen Handlungen kann und darf nicht auf HIV-positive Menschen abgeschoben werden. Die (potenzielle) Übertragung von HIV darf nicht weiter strafbar sein. Mehrere Interviews zeigen, was Kriminalisierung im Leben von Menschen mit HIV bedeuten kann.
„Da nahm das Drama seinen Lauf.“ Mit diesen Worten beschreibt Tilo (35) in einem Interview, was er als HIV-Positiver an Kriminalisierung erfahren musste.
Als er 2005 in einem Münchner Szenelokal einen Mann kennen lernt und ihn mit nach Hause nimmt, sieht alles nach einem ganz normalen Sexdate aus. Tilo thematisiert seine HIV-Infektion nicht. Wieso auch? Durch eine erfolgreiche Therapie befindet sich seine Viruslast unter der Nachweisgrenze. Damit ist er faktisch nicht mehr ansteckend. Außerdem knutschen und blasen die beiden sowieso nur, gefickt wird in dieser Nacht nicht.
Am nächsten Morgen erzählt Tilo von seiner Infektion und auch davon, dass er unter der Nachweisgrenze ist. Obwohl es kein Übertragungsrisiko gab, gerät sein Sexpartner in Panik, unterzieht sich kurz darauf einer PEP – einer vierwöchigen Therapie mit HIV-Medikamenten, die das „einnisten“ von HI-Viren im Körper kurz nach einem Risikokontakt vermeiden kann.
Nach einem Jahr ruft die Polizei bei Tilo an, vernimmt ihn kurz zu jenem Abend. Wenig später wird gegen ihn Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft unternimmt alles, um Tilo als verantwortungslosen Schuldigen hinzustellen. Eindeutige Gutachten, die Tilo als nicht ansteckend entlasten, weil seine Viruslast unter der Nachweisgrenze lag, werden ignoriert.
Erst in zweiter Instanz gelingt es Tilo und seinem Anwalt, ein windiges Sachverständigenurteil aus erster Instanz zu entkräften und eine Verurteilung abzuwenden. Doch Gericht und Staatsanwaltschaft wollen einen Freispruch um jeden Preis verhindern.
Psychisch entkräftet willigt Tilo in eine Arbeitsauflage ein. „Heute bedauere ich, dass ich das Verfahren nicht bis zum Ende geführt habe.“ Doch sein seelischer Zustand ließ das damals einfach nicht mehr zu.
Tilos Geschichte zeigt, wie sehr HIV-Positive durch Justiz, aber auch die Gesellschaft kriminalisiert werden können. Wie ihnen die alleinige Verantwortung beim Sex zugeschoben wird. Die Deutsche AIDS-Hilfe lehnt diese einseitige Zuschiebung von Verantwortung strikt ab! Unter dem Titel „Keine Kriminalisierung von Menschen mit HIV!“ hat sie ein Positionspapier veröffentlicht. Die klare Botschaft: Jeder ist voll für sein Handeln verantwortlich. Verantwortung kann man nicht an die Positiven delegieren.
In mehreren Interviews wird dieses Thema auf aidshilfe.de aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Neben dem Erfahrungsbericht von Tilo klärt Rechtsanwalt Jacob Hösl über die rechtliche Situation auf. Auch Hösl spricht sich deutlich gegen eine strafrechtliche Verfolgung von HIV-Übertragungen aus. (Interview mit Rechtsanwalt Jacob Hösl)
Dr. Dr. Stefan Nagel setzt sich mit der Verantwortung beim Sex und strafrechtlichen Zuschreibungen auseinander. Auch er kommt zu dem Schluss, dass HIV-positive Menschen nicht mehr Verantwortung zu tragen haben als deren Sexpartner. (Interview mit Dr. Dr. Stefan Nagel)
„Die Verängstigung ist greifbar“, sagt der Therapeut und Berater Stephan Jäkel. Er beschreibt die Auswirkungen von diskriminierenden und kriminalisierenden Verfahren auf HIV-positive Männer und ihrem Umgang damit. (Interview mit Therapeut Stephan Jäkel)
(Tim Schomann)