Mutig gegen die Pharmaindustrie – Brasiliens Einsatz gegen HIV

Brasilien geht im Kampf gegen HIV eigene Wege: Das liegt zum einen an der Entscheidung, eigene HIV-Nachahmerprodukte zu produzieren und sich so gegen die Pharmaindustrie zu stellen sowie an der kostenlosen HIV-Behandlung des Landes. HIV-Aktivist Peter Wiessner über das „Modell Brasilien“ und die Frage, was davon bleibt.

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Von ‚brasilianischen Modell‘ haben auch viele Entwicklungs- und Schwellenländer profitiert.

Ein paar Zahlen reichen aus, um das HIV-Bedrohungsszenario für Brasilien deutlich zu machen: Nach Angaben der Gesundheitsbehörden leben dort derzeit rund 720.000 Menschen mit HIV, zwischen 2002 und 2012 wurden pro Jahr durchschnittlich 37.000 neue Infektionen diagnostiziert. Die Epidemie konzentriert sich wie bei uns auf besonders so genannte vulnerable  – also „verletzliche“ – Gruppen. Hierzu gehören auch schwule Männer. Bei ihnen findet sich mit 10,5 Prozent die höchste HIV-Rate.

Nach Angaben der Regierung stabilisieren sich die Neuinfektionszahlen. Sie sind im Vergleich zu unserer Situation zwar sehr hoch, ohne das mutige und frühe Handeln der Regierung wären sie aber sicherlich noch höher. Die wichtigsten Bestandteile des „brasilianischen Modells“ waren von Anfang an der Kampf gegen Patente der Pharmaindustrie und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Präventionsplanung und -umsetzung.

Die Medikamente waren angesichts der Infektionsraten für das nationale Gesundheitsbudget schlichtweg zu teuer, sodass sich die Regierung schon früh zum Ziel setzte, die Kosten der HIV-Medikamente zu senken und die lebenserhaltende Therapie allen zur Verfügung zu stellen. Seit 1984 ist in Brasilien das Recht auf Gesundheit in der Verfassung verankert. Zu diesem Recht gehört der kostenlose Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Das Gesetz Nr. 9313 aus dem Jahr 1996 regelt zudem das Recht aller Betroffenen auf kostenlosen Zugang zur HIV-Behandlung. Private Krankenversicherungen wurden zur Kostenübernahme der HIV-Medikamente gezwungen.

Zudem leitete die Regierung die lokale Produktion von HIV-Nachahmerprodukten (Generika) in die Wege. Das Land hatte und hat durch seine große pharmazeutische Industrie die nötigen Kapazitäten, und bis 2001 konnten denn auch acht der damals zwölf erhältlichen HIV-Medikamente im Land hergestellt werden. Der Notstand wurde durch diese couragierten Maßnahmen abgewendet.

Brasilien war das erste Land des globalen Südens, das den universellen Zugang zur HIV-Behandlung sicherstellte, und wurde dadurch zum Vorbild vor allem für Entwicklungs- und Schwellenländer, die sich die teuren Therapien ebenfalls nicht leisten konnten. Millionen Menschenleben konnten gerettet werden. Dass das weniger teuer war als erwartet, ist das Verdienst Brasiliens.

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Brasilien setzte sich früh das Ziel, die Kosten für die Produktion von HIV-Medikamenten zu senken.

Zwischen 1996 und 2000 sanken die Kosten für HIV-Medikamente durch den Wettbewerb generischer Produkte um mehr als 70 Prozent. Die Pharmaindustrie aber war empört. Die US-Regierung, seit jeher treue Vertreterin der Wirtschaftsinteressen, beschwerte sich im Februar 2001 bei der Welthandelsorganisation. Das mantra-artig vorgetragene Argument: Das „Untergraben“ des Patentrechts werde dazu führen, dass die Industrie zum Nachteil späterer Generationen weitere HIV-Forschungsvorhaben aufgebe. Doch das Gegenteil war der Fall. Nicht eine einzige Pharmafirma musste Insolvenz beantragen, und geforscht wird seit 2001 so viel wie nie zuvor.

Seit 1996 allerdings das TRIPS-Abkommen unterzeichnet wurde, das unter anderem die Patentrechte der Pharmaindustrie klärt, ist der Spielraum zur Herstellung generischer Produkte auch in Brasilien begrenzt. Dies ist vor allem für HIV-Medikamente der neueren Generation und moderne Kombinationspräparate ein Problem. Die Patentlaufzeit beträgt 20 Jahre. Ein Präparat kann in der Regel nicht mehr legal kopiert werden, wenn es bei den Behörden registriert ist.

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Zwischen 1996 und 2000 sanken die Kosten für HIV-Medikamente durch den Wettbewerb generischer Produkte um mehr als 70 Prozent. (Foto: Michael Grabscheit; pixelio.de)

Um allerdings ein Medikament patentieren lassen und das Monopol darauf halten zu können, muss die Industrie belegen, dass es sich um eine wirkliche Innovation handelt. Hier haben die brasilianische Zivilgesellschaft und die Regierung immer wieder genau hingeschaut. Das Patent auf das HIV-Medikament Tenofovir der Firma Gilead zum Beispiel wurde im April 2008 verweigert, nachdem nachgewiesen werden konnte, dass die Substanz bereits seit den 80er-Jahren bekannt gewesen ist und deshalb mitnichten eine Innovation darstellt.

Brasilien hat in Bezug auf HIV beispielhaftes geleistet. Aber der Kampf scheint sich zu wiederholen. Offensichtlich ist dies derzeit vor allem im Bereich innovativer Hepatitis-C-Medikamente, für die mit nichts zu rechtfertigende Rekordpreise verlangt werden: Etwa 90.000 Dollar kostet eine Behandlung mit dem Präparat Sofosbuvir, während die realen Medikamentenkosten nach Berechnungen des englischen Wissenschaftlers Andrew Hill bei Größenordnung von 150 bis 250 US-Dollar pro Person liegen. Die Frage, ob und wie der globale Zugang zu Hepatitis-C-Therapien sichergestellt werden kann und ob das Land dazu erneut einen Beitrag leistet, ist derzeit jedoch vollkommen offen.

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