Unter der Nachweisgrenze – kann man das feiern?

Ruaidhri ist 26 Jahre alt, kommt aus Irland und lebt seit gut fünf Jahren in London. Im August 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. In diesem "offenen Brief an die Community" macht er sich darüber Gedanken, was es für HIV-Positive bedeutet, mit der Viruslast unter der Nachweisgrenze zu sein, was die schwule Community über Schutz durch Therapie denkt und fragt sich, warum die Szene selbst voller Vorurteile und Stigma ist.

Ruaidhri ist 26 Jahre alt, kommt aus Irland und lebt seit gut fünf Jahren in London. Im August 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. In diesem „offenen Brief an die Community“ macht er sich darüber Gedanken, was es für HIV-Positive bedeutet, mit der Viruslast unter der Nachweisgrenze zu sein, was die schwule Community über Schutz durch Therapie denkt und fragt sich, warum die Szene selbst voller Vorurteile und Stigma ist. Gedanken, die so oder so ähnlich auch für Deutschland gelten dürften.

Ich war verdammt geil – was tun? Grindr versprach Abhilfe. Ein paar Chats mit ein paar Typen, und dann erregte ER meine Aufmerksamkeit. Nach ein paar Messages war er auf dem Weg zu mir. Eine kleine Begrüßung, dann fielen die Hüllen. Nur die Jocks ließen wir noch an, und dann ging es schon ans Eingemachte. In dem Augenblick fiel mir allerdings ein, dass wir noch gar nicht über unseren HIV-Status gesprochen hatten. Das passte eigentlich gar nicht zu mir, also fragte ich ihn: „Positiv oder negativ?“, und er sagte: „Positiv, aber unter der Nachweisgrenze.“ Ich weiß nicht warum, und ich hatte das auch nicht geplant, jedenfalls sagte ich mit breitem Grinsen: „Gib mir fünf – ich auch!“ Wir klatschten uns ab, und dann ließen wir das Feuerwerk explodieren. Okay, es waren eher Wunderkerzen …  

Kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten, bekam ich eine Nachricht von ihm, die mich ganz schön umhaute. Er schien mir irgendwie vorzuwerfen, dass ich mich über unsere Viruslast unter der Nachweisgrenze gefreut, ja sie sogar „gefeiert“ und damit die Krankheit verharmlost hätte. Am meisten schien ihn das „High Five“ zu stören – ich hätte mich total naiv und kindisch verhalten.  

Als ich vor einem Jahr im August meine HIV-Diagnose bekam, löste das jede Menge Emotionen aus. Ich fühlte mich allein, wertlos und überhaupt nicht sexy. Mein Selbstvertrauen war in der ersten Zeit völlig am Boden, emotional ging es mit mir rapide bergab. Manchmal konnte ich morgens kaum aufstehen. Aber ich hatte die Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde. Und ich wollte unbedingt unter die Nachweisgrenze kommen, steckte meine ganze Energie darein, dieses Ziel zu erreichen. Ich weiß noch genau, wie ich voller Hoffnung auf die Ergebnisse der ersten Untersuchung einen Monat nach dem Therapiestart wartete. Natürlich war ich noch nicht unter der Nachweisgrenze, es war noch viel zu früh, aber ich fühlte mich trotzdem total ausgebrannt. Ich wollte mich einfach wieder normal fühlen, und unter der Nachweisgrenze zu sein, lag für mich zumindest in der Nähe dieses Gefühls. 

Heiligabend dann – eigentlich eine filmreife Szene – bimmelte mein Telefon, als ich gerade mit meiner Mutter beim Shoppen war: Ich hatte eine E-Mail von der HIV-Praxis bekommen, dass meine Viruslast endlich unter der Nachweisgrenze lag. Ich sah meine Mutter an, sagte „Fröhliche Weihnachten, ich bin unter der Nachweisgrenze“, und brach in Tränen aus – Freudentränen! Ich war stolz, dass ich es geschafft hatte, mit dieser eigentlich schrecklichen Geschichte jeden Tag ein bisschen besser umzugehen, und dass ich mich nun langsam wieder etwas normaler fühlte.

Ich brauchte einige Zeit, bis ich ihm antworten konnte. Er hatte es geschafft, dass ich mich wieder krank fühlte, schmutzig und wertlos. Aber dann wurde ich wütend, richtig wütend. Und ich schrieb ihm zurück, dass man es geradezu feiern müsse, wenn man unter die Nachweisgrenze kommt. Das zeige doch, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Und ich schrieb ihm, dass seine Reaktion vielleicht ein Hinweis darauf sei, dass er mit seiner Diagnose noch nicht klarkomme. Ich sagte ihm, dass ich ihn verstehen könne, aber dass Diskriminierung in unserer Community keinen Platz haben dürfe. Ich habe nie wieder was von ihm gehört.

Um ehrlich zu sein: Man muss hart daran arbeiten, mit seinem Positivsein positiv umgehen zu können. Ich habe immer noch schlechte Tage, an denen all die alten Gedanken wiederkommen und ich eigentlich nur heulen möchte. Das ist nun mal so. Aber alles, was mir dann hilft, ist gut. Und dazu gehört für mich, unter der Nachweisgrenze zu sein. Das ist doch toll! Ich hatte mich nach der Diagnose langsam wieder aufgerappelt und angefangen, mein Leben wieder zu leben. Okay, es war anders, als ich es mir irgendwann mal vorgestellt hatte, aber es war Leben, und ich war dankbar dafür. Ich hatte mich für mein Positivsein geschämt, es hatte mir Angst gemacht, aber ich hatte dieses Gefühl in seine Schranken gewiesen und war stolz darauf.

Warum tun wir – als Community, die so viel Diskriminierung und Stigmatisierung erlebt hat und immer noch erlebt – uns das gegenseitig an? Es gibt viele Männer, die mit HIV leben. Unter der Nachweisgrenze zu sein, ist da eine Erfahrung, die viele teilen, und damit müssen wir umzugehen lernen. Vielleicht muss man keine Party feiern und sollte auch keine Glückwunschkarten erwarten, aber ein „Gratuliere!“ oder auch ein „Gib mir fünf!“ sollten allemal drin sein.

Der Text ist im englischen Original in dem britischen Online-Gesundheitsmagazin für schwule Männer FS magazine unter www.fsmag.org.uk erschienen. (Autor: Ruaidhri O’Baoill @RuaidhriOB)

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Wer mit der Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, sollte vielleicht keine Party feiern, aber ein „Gratuliere!“ oder auch ein „Gib mir fünf!“ sollten nach Ansicht des Autors drin sein.
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