„Es kommt darauf an, wo man lebt“

Anlässlich des internationalen Coming-out Days wollten wir von Coming-out Helfer Lars Bergmann wissen: Ist es heute leichter als 1988?

1988 wurde in den USA der Internationale Coming-out-Tag am 11. Oktober ins Leben gerufen. Lars Bergmann, 28, ist ein Coming-out-Helfer sowie Leiter der Koordinierungsstelle andersARTIG in Brandenburg. Axel Schock sprach mit ihm über Coming-out in Zeiten des Internets, Selbsthilfe in der Provinz und die Einstellung Jugendlicher zu HIV

Das Logo des Coming Out days von Keith Haring
Das Logo des Coming Out days von Keith Haring

Vor zehn Jahren warst du selbst noch im Coming-out. Mittlerweile unterstützt du Jugendliche in dieser wichtigen Lebensphase und warst einige Jahre Vorstand des Jugendnetzwerk Lambda in Berlin. Wie hat sich die Situation schwuler Jugendlicher in dieser Zeit verändert?

Das gesellschaftliche Klima hat sich zweifellos verbessert und dadurch ist vieles einfacher geworden. Es gab aber auch strukturelle Veränderungen. Als ich mein Coming-out hatte, gab es beispielsweise Internetplattformen wie Gayromeo noch nicht. Man musste als Jugendlicher tatsächlich in die Szene hinausstürmen und in direkten Kontakt mit anderen kommen. Der erste Anlaufpunkt war in der Regel die schwule Jugendgruppe. Das hatte durchaus einen besonderen Charme und ich bin im Rückblick nicht traurig, dass ich auf diese Weise mein Coming-out erlebt habe. Das Internet ist heute natürlich ein wesentlich niedrigschwelligerer Weg. Er ist anonymer und hält eine große Menge an Informationen bereit, wie es sie zur Jahrtausendwende noch nicht gab.

Hat dies dazu geführt, dass das Coming-out leichter geworden ist?

Die Ängste und Befürchtungen von jugendlichen Homosexuellen sind nach wie vor dieselben: Wie werden meine Eltern reagieren? Werden meine Freunden noch mit mir befreundet sein wollen? Die Befürchtung, gemobbt und ausgegrenzt zu werden, ist für Jugendliche besonders schwerwiegend, weil sie sich mit 16 oder 18 in einem Alter befinden, in dem man sich in hohem Maße über eine Clique oder Gruppe definiert. Dort dann am Rande zu stehen, ist eine doppelte Strafe.

Wir haben inzwischen einen schwulen Außenminister und die Homoehe, das gesellschaftliche Klima erscheint zunehmend toleranter. Gerade die Umfragen unter Jugendlichen weisen jedoch auf eine gegenteilige Entwicklung hin. Welche Erfahrungen hast du in der Jugendarbeit gemacht?

Es kommt immer noch sehr darauf an, wo man sein Leben lebt. Berlin beispielsweise ist kein Maßstab für Deutschland. Immer wieder erleben Jugendliche, dass sie wegen ihres Andersseins einem Spießrutenlauf ausgesetzt sind. Und diese Tendenz nimmt nach meiner Wahrnehmung tatsächlich zu. Das goldene Zeitalter für Schwule und Lesben ist also noch lange nicht angebrochen, auch wenn das in der öffentlichen Wahrnehmung so vermittelt wird.

Lars Bergmann vom brandenburgischen Landesverband AndersARTiG e.V.
Lars Bergmann vom brandenburgischen Landesverband AndersARTiG e.V.

Wie reagiert ihr darauf?

Lambda und AndersARTIG unternehmen zum Beispiel jedes Jahr eine Tour durch Brandenburg, um die Landbevölkerung anzuregen, sich mit dem Thema Homosexualität auseinanderzusetzen. Das Niveau, auf dem dabei das Thema bisweilen diskutiert wird, kann man etwa im Vergleich zu Berlin einfach nur als unterirdisch beschreiben.

Ist dies vor allem dem Stadt-Land-Gefälle geschuldet?

In Berlin wird gerne das Bild transportiert, dass alles erreicht sei. Wir haben aber gerade in jüngster Zeit gesehen, dass Homophobie auch in einer Metropole wie Berlin zum Lebensalltag gehört. Die Politik hat dort mit der „Initiative zur Akzeptanz sexueller Vielfalt“ reagiert. Das mag vorbildlich sein, ist keineswegs eine bundesweite Normalität. Das Land Brandenburg beispielsweise fördert im Grunde seit 20 Jahren auf demselben niedrigen Niveau und wundert sich, dass es nicht vorangeht. Auch das gehört zur Realität.

Was bleibt lesbischen und schwulen Jugendlichen in kleinen Provinzstädten – ob nun in Hessen, Bayern oder Brandenburg – angesichts dieser gesellschaftlichen Situation?

Ich denke, dass viele Jugendliche auf dem Land mit ihrem Coming-out warten, bis sie alt genug sind, um in eine größere Stadt zu ziehen. Dort ist die Anonymität groß genug oder das Klima so offen, dass sie es wagen können.

„Professionalisierte Angebote für schwule und lesbische Jugendliche gibt es lediglich in Großstädten“

Dann gibt es natürlich auch jene, die so mutig sind, vor Ort zu bleiben und Gruppen zu gründen. Nehmen wir das Beispiel Brandenburg: Es gibt aktive Gruppen in Cottbus und Königs Wusterhausen und auch einen gut aufgestellten regionalen Verband in der Uckermark. Man kann dies alles natürlich nicht mit den professionalisierten Angeboten der Großstädte vergleichen – aber gäbe es sie nicht, würden sie sehr fehlen.

Welche Möglichkeiten gibt es, diese Initiativen zu fördern?

Meine Aufgabe in Brandenburg ist unter anderem, solche Angebote mit zu schaffen, zu begleiten und Infrastrukturen aufzubauen. Damit wollen wir gewährleisten, dass jemand, der beispielsweise in der Prignitz sein Coming-out hat, vor Ort auch eine kompetente Beratung bekommt. Das ist dann vielleicht kein schwul-lesbischer Verein, sondern stattdessen eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Anders als etwa in Stadtstaaten wie Hamburg oder Berlin, wo alles dicht gedrängt ist, geht es in einem Flächenland wie Brandenburg vor allem um Vernetzung, gerade auch von Kompetenzen.

Jugendliche werden heute in der Regel bereits in einem wesentlich früheren Alter und zudem direkter mit Sexualität konfrontiert als noch vor zehn Jahren. Macht sich das in deiner Arbeit bemerkbar?

Das Klima ist meines Erachtens nur scheinbar offener geworden, im Grunde genommen haben wir es heute mit den gleichen Verklemmtheiten zu tun. Das merken wir immer wieder, wenn wir zu Aufklärungsveranstaltungen in Schulklassen eingeladen werden. Man denkt, dass diese Zehntklässler schon völlig abgebrüht sind, aber sie schaffen es kaum, die Worte für Sexualpraktiken in den Mund zu nehmen.

Wie ist deiner Erfahrung nach der Kenntnisstand der Jugendlichen in Sachen Safer Sex? Im Grunde müssten doch alle Schüler schon vor ihrem Coming-out im Sexualkundeunterricht ihr erstes Kondom über einen Holzpenis gerollt haben.

Den überwiegenden Teil der schwulen Jugendlichen erlebe ich als sehr gut aufgeklärt. Sie wissen, wie sie sich vor HIV schützen können. Nur eine kleine Gruppe ist völlig unbedarft. Die haben im Sexualkundeunterricht lediglich mitbekommen, dass Kondome gut für die Schwangerschaftsverhütung sind. Darüber hinaus sind sie offensichtlich von den Aufklärungskampagnen nicht erreicht worden.

Ihr führt auch so genannte Anfangsberatungen zu HIV bei jungen Schwulen durch.

Auch da erlebe ich, dass das Wissen über Safer Sex zwar theoretisch vorhanden ist, es aber tausend Gründe gibt, weshalb man im Einzelfall darauf verzichtet hat. Die Ängste vor einer möglicherweise erfolgten Infektion sind dann hinterher groß. Hier ist es wichtig, den jungen Männern eine gute Hilfestellung an die Hand zu geben, ihr Risiko realistisch einzuschätzen.

„Wenn man Jugendliche in Todesangst versetzt, sind sie für Aufklärung nur noch schwer erreichbar“

In welchem Maße wird das schwule Coming-out durch die Angst vor HIV erschwert?

Es herrscht sicherlich nicht mehr so stark wie früher das Klischeebild vor, dass Schwule soviel herumvögeln und es deshalb zwangsläufig zu einer HIV-Infektion kommen muss. Diese Angst wird häufig von Angehörigen und Freunden an die Jugendlichen herangetragen. Ich kenne das selbst auch von meinem eigenen Coming-out. Die erste Sorge meiner Eltern war, dass sie nie Enkel bekommen werden. Die zweite, dass ich mich mit HIV infizieren könnte. Mir fällt in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf, was für ein antiquiertes Bild über den Verlauf einer HIV-Infektion vorherrscht. Bei einer guten Therapie stirbt man heute nicht mehr binnen weniger Jahre!

Es wird manchmal kritisiert, es werde in der Prävention mittlerweile ein zu wenig bedrohliches Bild von HIV gezeichnet.

Wenn man Leute in Todesangst versetzt, verschließen sie sich eher und sind dann auch nicht mehr offen für Aufklärung. Bei Lambda haben wir versucht gegenzusteuern – durch Safer-Sex-Workshops und allgemeine Gespräche über Sexualität. Das ist die besondere Herausforderung: die Infektion nicht zu verharmlosen, aber auch diese Art von Todesangst zu nehmen. Das ist ein schwieriges Unterfangen und bedarf auch einiger pädagogischer Erfahrung. Die ist leider nicht überall vorhanden.

Sind manche Jugendliche der Meinung, dass HIV sie nicht betreffen könne, weil das eine Sache der alten schwulen Männer sei?

Latent ist eine solche Haltung immer wieder zu finden. Ich wurde bei Lambda tatsächlich einige Male in Gruppenveranstaltungen von Jugendlichen gefragt, was das Thema HIV denn mit ihnen zu tun haben solle. Sie waren in dem Irrglauben, dass von den 60, 70 Jugendlichen, die täglich bei Lambda ein- und ausgehen, kein einziger HIV-positiv sei. Mittlerweile verstehen die Jüngeren aber immer besser, dass HIV nicht nur Ältere betrifft, unter anderem, weil sie natürlich mitbekommen, dass auch manche Gleichaltrige auf so genannte Barebackpartys gehen. In Berlin haben auch die Jungs vom Präventionsprojekt manCheck viel zu diesem Wandel beigetragen. Die informieren auf Partys und bei anderen Szeneveranstaltungen über HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen. Wie das in ländlichen Regionen ist, kann ich allerdings nicht einschätzen.

„In der Jugendarbeit ist es nach wie vor schwer über Geschlechtskrankheiten zu sprechen“

Wie reagieren denn die Jugendlichen auf eure Gesprächsangebote?

In der Jugendarbeit ist es nach wie vor schwer, ins Gespräch über sexuell übertragbare Infektionen zu kommen und über sie zu informieren. Sie gelten als Schmuddelsache, mit der man selbst nichts zu tun hat. Das fängt bei Filzläusen an und geht bis HIV.

Wie ergeht es jugendlichen Positiven?

Während meiner Zeit bei Lambda gab es einige wenige, die sich trauten, es den anderen zu sagen. Ein offener Umgang ist aber sehr schwierig. Ein junger Mann, der seit zwei Jahren positiv ist, hat mir diese Zurückhaltung so erklärt: HIV ist seiner Ansicht nach die einzige Krankheit, für die man nicht bedauert wird, sondern deretwegen man Vorwürfe gemacht bekommt: „Warum hast du nicht besser aufgepasst?“ An diesem Punkt wird man weiter arbeiten müssen.

Wie reagiert ihr darauf in der Prävention?

Sex soll ja zuallererst einmal Spaß machen. Wenn man die Jugendlichen aber von morgens bis abends vor Sex warnt, kann das nicht klug sein. Richtig ist es zu vermitteln, dass Sex Spaß macht, aber auch Risiken birgt. Mit denen muss man sich beschäftigen, bevor man sich ihnen aussetzt. Darum muss es in der schwulen Jugendarbeit neben der generellen Coming-out-Hilfe auch gehen und ich denke, dass viele Projekte hier bereits gute pädagogische Konzepte gefunden haben.

Weitere Informationen:

Deutsche Internetzpräsenz des Coming-out-Days

ICH WEISS WAS ICH TU bietet ebenfalls Informationen für junge Schwule an, zum Beispiel Tipps für Szeneneulinge in der Großstadt

Eine gute Website für junge Schwule ist dbna.de. (dbna steht für „Du bist nicht allein“)

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