„Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet!“ Das sagte Alice Weidel 2023 im ARD-Sommerinterview. Jetzt könnte man ja meinen: „Hä? Aber dann ist sie ja doch queer!“ Schließlich wird queer oft als Sammelbegriff für alle Menschen benutzt, die nicht heterosexuell, cis- und endogeschlechtlich sind.
Alice Weidel geht es aber nicht um queer als Sammelbegriff, sondern um queer als Begriff, der mit progressiver vermeintlich „woker“ Symbolik, Menschenrechten und einer vermeintlichen „Gender-Ideologie“ aufgeladen ist. Und das lehnt sie ab.
Rechte Queers
In einem Artikel für Geschichte der Gegenwart schreibt der Kulturanthropologe Patrick Wielowiejski, der zwei Jahre lang schwule Mitglieder der AfD ethnographisch begleitet hat, folgendes:
„In der Tat integriert die AfD vor allem Homosexuelle (…) in ihre Reihen (…). Solange sie die „Realität der Zweigeschlechtlichkeit“ anerkennen und damit queere Auffassungen von Geschlecht und Sexualität zurückweisen, werden LGBT-Personen von der AfD toleriert.“
Und weiter:
„Im Ergebnis haben wir es nicht primär mit Homo- oder Transfeindlichkeit zu tun (auch wenn diese mitnichten ganz verschwunden sind), sondern vor allem mit Queerfeindlichkeit. Das heißt, dass manche Teile der sogenannten Community in den historischen Block der Rechten integriert werden können – nämlich diejenigen, die das Phantasma einer natürlichen, stabilen, eindeutigen Identität bestätigen. Oder, kurz gesagt, die am wenigsten queeren von ihnen.“
Alice Weidel und andere rechte LGBT-Personen in der AfD sind damit nicht allein. Im gleichen Jahr wie Alice Weidel, nur wenige Monate später, meinte Jens Spahn im Interview mit dem rechtspopulistischen Fox-News-Abklatsch „Nius“: „Ich bin nicht queer, ich bin schwul.“
Natürlich ist es jeder Person selbst überlassen, wie sie oder er sich definieren möchte. Niemand muss den Begriff „queer“ für sich benutzen, der oder die das nicht möchte. Hier geht es jedoch nicht um die Ablehnung einer Eigendefinition. Es geht um die Bekämpfung all dessen, wofür der Begriff „queer“ ihrer Phantasie nach steht: sogenannte „Gender-Ideologie“, woke Bestrebungen für Gleichberechtigung, vermeintliche „Frühsexualisierung“ von Kindern (sprich: altersgerechte, sexuelle Bildung), den Abbau rigider, binärer, essentialistischer Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität, oder die vermeintliche „Gefährdung“ cisgeschlechtlicher Frauen durch trans Rechte. Kurz: Der Begriff „queer“ gilt als Bedrohung für die binäre Zweigeschlechtlichkeit, die ein Grundstein für die patriarchale Weltordnung ist.
Der Begriff „queer“ steht hier also stellvertretend als Chiffre, als Code für „links“ und für den Abbau klarer Geschlechtergrenzen. Ein Blick gerade in die deutsche Geschichte zeigt: Dieses Phänomen ist nicht neu!
Sexuelle Zwischenstufen
Ernst Röhm war Leiter der nationalsozialistischen, paramilitärischen Sturmabteilung (SA), sowie ein enger Freund von Hitler. Und: Seine Homosexualität war ein offenes Geheimnis. In den 1920ern und frühen 1930ern half Ernst Röhm auf bedeutende Weise Hitler beim Aufstieg der Nazis – in einer Zeit, in der es in Berlin eine Bewegung gab, die heute als weltweit erste queere Emanzipationsbewegung bezeichnet wird. Nur gab es damals den Begriff queer, so wie wir ihn heute benutzen, nicht.
Es gab allerdings einen anderen Begriff, der teilweise eine ähnliche Funktion erfüllte: sexuelle Zwischenstufe. Der Begriff wurde von Magnus Hirschfeld geprägt, einem jüdischen Arzt, Sexualwissenschaftler und Gründer der weltweit ersten Bewegung für die Rechte queerer Menschen. Hirschfeld entwickelte eine wissenschaftliche Theorie zu Geschlecht: Er begriff Geschlecht nicht als binär, sondern als Kontinuum mit männlich und weiblich als Extrempole. Alle Menschen hätten Hirschfeld zufolge eine Mischung aus sowohl männlichen, als auch weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Die meisten Menschen würden sich an den beiden Endpunkten dieses Kontinuums ansammeln. Manche Menschen würden sich jedoch eher in der Mitte dieses Kontinuums befinden. Und diese Menschen nannte er sexuelle Zwischenstufen. Dazu zählte er zum Beispiel nicht nur trans und inter Menschen, sondern auch Lesben, Schwule und Bisexuelle.
Der Begriff der sexuellen Zwischenstufen war zentral in Hirschfelds Theorie zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und galt als eine Art Sammelbegriff für Menschen, die sich außerhalb der heterosexuellen, cisgeschlechtlichen und endogeschlechtlichen Norm befanden – ähnlich wie der Begriff „queer“ heute.
Unter queeren Menschen – und besonders unter politisch rechten schwulen und bi+ Männern – gab es allerdings Widerstand gegen Hirschfelds Theorien. Als Gegenpol zu Hirschfelds progressiven, nicht-binären Theorien zu Geschlecht und Sexualität gründete der Aktivist Adolf Brand 1903 die Gemeinschaft der Eigenen. Brand und viele andere schwule und bi+ Männer, die politisch rechts bis weit rechts standen, waren der Ansicht, dass Hirschfeld schwule und bi+ Männer „verweibischen“ würde und versuchten, männliche Homosexualität nicht nur als binär, sondern vor allem als „männlichste Form der Männlichkeit“ darzustellen: Nichts sei demnach Zeichen eines „richtigen Mannes“ als Sex unter Männern. Diese schwulen Männer seien also so männlich, dass sie Frauen weder ansehen, noch anfassen möchten. Und das mache sie eben nicht „effeminiert“, sondern hypermaskulin.
Oft waren diese Vorstellungen nicht nur mit Sexismus und Frauenhass verknüpft, sondern auch mit Rassismus und Antisemitismus. Und fanden sich zuhauf auch unter schwulen und bi+ Nazis um den Hitler-Freund Ernst Röhm, sowie in dessen SA wieder.
Bedrohung für rechte Ideologien
Damals wie heute wird die Auflösung der binären Zweigeschlechtlichkeit von den Rechten als Bedrohung wahrgenommen. Weil diese binäre Zweigeschlechtlichkeit ein essentieller Baustein ihrer weiß-patriarchalen Weltordnung ist, in der die „weiße Rasse“ durch möglichst viele Kinder aus heterosexuellen Ehen zwischen „eindeutigen Männern“ und „eindeutigen Frauen“ die Vorherrschaft übernimmt – wobei die Frauen selbstverständlich zu Gebärmaschinen degradiert werden.
Die Theorie der sexuellen Zwischenstufen ist ebenso eine Bedrohung für dieses Weltbild wie die „woke“ Queer Theory. Damals wie heute gab und gibt es schwule, lesbische und bi+ Menschen, die versuchen, sich den Rechten anzubiedern, indem sie sich demonstrativ von der Bedrohung für das patriarchale Weltbild der weißen Vorherrschaft distanzieren. Damals sagten sie: Ich bin keine sexuelle Zwischenstufe. Heute sagen sie: Ich bin nicht queer.
Was sie damit auch sagen: „Seht her! Ich bin zwar lesbisch, aber ich bin nicht so wie diese verrückten, linken Ideologen. Ich bin zwar schwul, aber ich bin eigentlich auf eurer Seite und will das gleiche wie ihr! Ich bin nicht gefährlich für euch. Bitte akzeptiert mich und ich werde mit euch gegen die anderen kämpfen.“
Die Ablehnung des Begriffs „queer“ von rechtspopulistischen und rechtsextremen, queeren (heißt: nicht-heterosexuellen, nicht-cis- und endo-geschlechtlichen) Menschen ist so ähnlich wie vor rund 100 Jahren die Ablehnung des Begriffs „sexuelle Zwischenstufen“ von rechtspopulistischen und rechtsextremen Menschen, die damals als sexuellen Zwischenstufen galten. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich oft.
Wie vor rund 100 Jahren kann dies aber nicht gut ausgehen. Rechtsextreme und Rechtspopulist*innen werden nach dem Kampf gegen trans und nicht-binäre Menschen nicht plötzlich aufhören. Wenn sie erst mit trans und nicht-binären Menschen fertig sind, dann ist die nächste Gruppe dran: Lesben, Schwule und bi+ Menschen. 1934 ließ Hitler seinen ehemaligen Freund Ernst Röhm in der Nacht der langen Messer umbringen. Danach verschärften die Nazis den §175, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Tausende queere Menschen kamen in KZs und wurden dort ermordet. Es ist deshalb wichtig, dass wir als Community zusammenstehen und solidarisch sind – ganz egal wie wir uns selbst persönlich definieren.