Foto: Spyros Rennt

Meine Suche nach Hemmungslosigkeit

Christoph Schal-Breite

“Mach mal den Mund auf”, sagte der Typ, den ich gar nicht kannte. Vor wenigen Stunden auf Gayromeo gefunden, saß ich nun nackt und geil zwischen seinen Beinen, bei ihm zuhause. Ich wusste zwar nicht, was er vorhatte, öffnete aber trotzdem meinen Mund. Er legte eine kleine runde Pille auf meine Zunge. Ich schluckte. Erst danach fragte ich, was das war. “Ectasy”, sagte er knapp. Ich habe vorher noch nie Drogen genommen, ich war gespannt auf die Wirkung.

 

Heute, 17 Jahre später, habe ich ein cleanes Sexleben. Ich trinke nicht einmal mehr Alkohol. Die Angst ist zu groß, dass ich dann wieder etwas nehme und die Kontrolle verliere. Niemand kann mir schließlich garantieren, dass ich es wieder schaffe, aufzuhören und ich möchte nicht noch einmal in die Spirale nach unten geraten.

 

Es fühlt sich geil an

Zurück zur Nacht, vor 17 Jahren: Die Pille fing irgendwann an zu wirken. Schleichend, aber angenehm. Meine Haut kribbelte und wurde immer sensibler. Ich nahm die Berührungen des fremden Mannes intensiver wahr, so intensiv wie nie zuvor. Jede Berührung unserer Lippen kam einer Explosion gleich. “Es fühlt sich geil an”, stöhnte ich und wir fickten, hart und hemmungslos, die ganze Nacht. Es war der beste Sex meines Lebens.

 

Damals war ich 23 Jahre alt und gerade erst nach Berlin gezogen. Raus aus der Kleinstadt, rein in die Großstadt. Ich wollte frei sein, mich ausleben und das finden, was ich seit Jahren suchte – Anerkennung, Wärme und Geborgenheit. Nach meiner ersten Nacht auf Chems wollte ich mehr davon. Ich dachte immer wieder an die Intensität der Gefühle und Berührungen. Alles ging so tief unter meine Haut und schien mich in meinem Innersten zu berühren. Also suchte ich immer wieder danach, online oder in Clubs, und fand Männer, die mich stundenlang fickten.

 

Die Chems halfen mir dabei all meine Hemmungen abzubauen, ich wurde leidenschaftlicher und gierig. Die Drogen sorgten auch dafür, dass ich mich begehrt fühlte. Alle Männer in den Clubs wollten mich schließlich. Ich wurde geliebt und ich wollte immer mehr von der Intensität, den Berührungen.

 

Irgendwann suchte ich mir meine Sexpartner nicht mehr nach ihrer Attraktivität aus, sondern nach dem, womit sie mich glücklich machen konnten, zumindest für den Moment. Mein Sexleben wurde von Chems bestimmt. Die Substanzen nahmen immer mehr Raum in meinen Gedanken ein. Sex ohne Drogen fand ich langweilig und wollte ich einfach nicht mehr. Stattdessen wollte ich Intensität, Leidenschaft und Hemmungslosigkeit: Ich wollte weiter und immer mehr geliebt werden.

 

Zweimal ging es fast schief. Ich nahm zu viele Substanzen durcheinander und auf einmal. Beim ersten Mal rief ich einen Freund an, der die Nacht und den folgenden Tag auf mich aufpasste. Beim zweiten Mal blieb ich alleine. Mein Sexdate war bereits verschwunden, mein linker Arm tat weh und ich hatte ein Stechen in meiner Brust. Ein leichter Herzinfarkt? Mein Handy lag neben mir, ich wollte einen Krankenwagen rufen, war aber nicht in der Lage dazu. Ich lag einfach nur da und konnte mich nicht bewegen. Als ich langsam wegdämmerte, fing ich an zu weinen und verabschiedete mich bereits in meinen Gedanken. Ich war mir sicher, dass ich nie wieder aufwachen werde. Ich irrte mich und wachte wieder auf, mein Verhalten änderte ich trotzdem nicht. Mein persönlicher Tiefpunkt folgte erst elf Jahre später.

 

Ich war immer auf der Suche nach einem größeren Kick, nach einem besseren Gefühl und überschritt mit 34 Jahren diese eine Grenze, an die ich mich bisher nie wagte. Ich schrieb über Stunden mit einem Typen, den ich bereits kannte. Wir schaukelten uns gegenseitig hoch, wollten ficken und verabredeten uns für eine Orgie in einem Berliner Keller. Dort fickten wir durch die Kellerräume, tobten uns aus und gingen zwischendurch immer wieder zur Toilette, um eine Line zu ziehen. Irgendwann lag ich in einem Sling, die Beine nach oben, passiv bei einer Fisting-Session. “Willst du ‘nen Schuss?”, fragte mich ein Typ. Ohne darüber nachzudenken, sagte ich Ja und sah dem nackten Mann mit dem großen steifen Schwanz zu, wie er die Spritze aufzog, ansetzte und mir einen Schuss setzte

 

Das Zeug war nun also in mir und es versammelten sich immer mehr Typen um mich herum – wie viele es waren, weiß ich nicht mehr – und spielten an meinem Arschloch. Dann begann es zu kribblen. Ich fühlte mich so berauscht wie noch nie, bis eine Faust durch meine Rosette glitt – und ich vor Schmerzen aufschrie.

 

Ich war wieder im Moment, klar bei mir, und der Schmerz war unerträglich. Was hatte ich getan? Ich suchte meine Kleidung, ließ die nackte Männerhorde verwirrt zurück und ging nach Hause – voller Schuldgefühle und Scham.

 

Dieser Moment blieb mir in Erinnerung. Ich verstand nun, dass ich ein Problem habe und dass ich es alleine nicht schaffen würde. Kurze Zeit später begann ich eine Entwöhnungstherapie in einer Klinik. Die Zeit war nicht einfach. Es folgten immer wieder Rückschritte und ich musste viel über mich selbst lernen. Die Anstrengungen lohnten sich aber. Heute habe ich wieder Sex ohne dabei die ganze Nacht durchzuhalten oder fünfmal pro Stunde abzuspritzen. Ich habe gelernt leidenschaftlich und hemmungslos zu sein, ganz ohne Drogen.