Ein Herz für Sorglosigkeit
Marcel Dams
Das Sexlebens unseres Autoren war seit seinem Coming-out verknüpft mit der Angst vor einer HIV-Infektion. Dann war er einmal unvorsichtig. Wie er sich danach fühlte, hat er für uns aufgeschrieben.
Schwul zu sein sollte heutzutage doch kein Problem mehr darstellen. Pass nur wegen HIV/Aids auf, ok?
„Schwul zu sein sollte heutzutage doch kein Problem mehr darstellen. Pass nur wegen HIV/Aids auf, ok?“: Diese Worte höre ich seit meinem Coming-out immer und immer wieder zu hören. Sie sind zwar immer gut gemeint, die Sorge im Klang ihrer Stimmen war aber nicht zu überhören.
Mein Coming-out mit 14 Jahren war unproblematisch und das ist nicht selbstverständlich. Lehrer*innen unterstützten mich und falls doch jemand mal über „Schwuchteln“ sprach, dann musste diese Person mit Gegenwind von Mitschüler*innen rechnen. Klar, ich habe ebenso Hass und Gewalt erlebt. Der Support war jedoch größer als angenommen. Abgesehen von der erfahrenen Akzeptanz, lag den Menschen meine Gesundheit am Herzen. Sie erwähnten Aids so oft, es schien mir anfangs wie eine Schallplatte der Fürsorglichkeit, die immer wieder gespielt wurde.
Zwei Jahre später, an einem Sommertag mit über 30 Grad. Nicht nur das Wetter brachte mich zum Schwitzen. Auch die Aussicht auf das Treffen mit diesem Jungen, den ich in einem Internetchat kennengelernt hatte. Es war das erste Mal, dass ich bewusst mit einem anderen Schwulen verabredet war. Am See fielen mir direkt seine sportlichen Waden und die kräftigen Oberschenkel auf, welche nur von einer dünnen, kurzen Hose überdeckt wurden. Er sah toll aus, doch je näher ich kam, desto mehr musterte ich ihn. Möglicherweise bildete ich es mir nur ein, aber sah er nicht etwas kränklich aus? Vielleicht hat er es. Plötzlich erschien er mir in anderem Licht. Er war nicht mehr schön, sondern furchteinflößend.
Mit der Volljährigkeit stand der erste Besuch einer Schwulenparty bevor. Ich wollte endlich so flirten können und die Möglichkeit haben, jemanden kennenzulernen wie mein heterosexuelles Umfeld. Es brauchte einige Partys, bis ich auf einer Toilette irgendeinem Typ mit geschlossenen Augen den Schwanz wichste. Irgendwann spürte ich ein paar Tropfen eines dickflüssigen Schleims an meinen Fingern, stieß den Kerl reflexartig von mir weg und floh wie ein Wahnsinniger.
Die Angst, die mich trieb
Kurz darauf saß ich beim HIV-Test. In der Beratung erklärte mir eine Frau zwar, dass die Situation auf der Party kein wirkliches Risiko darstellte, dennoch war mir Gewissheit wichtig. Das Ergebnis war negativ. Von da an saß ich routinemäßig alle drei Monate im Gesundheitsamt. Manchmal hatte ich gar keinen sexuellen Kontakt zwischen den Besuchen. Es ging dabei gar nicht um Risiken. Die Angst trieb mich hin. Sie wurde mir offen und subtil so eingetrichtert, dass sie wie Normalität wirkte. Schwuler Sex und HIV/Aids waren untrennbar miteinander verbunden. Schon vor dem ersten Sex, hatte ich Schiss vor dem Sex, mir erschienen alle schwulen Männer, denen ich begegnete, wie potenzielle Virusüberträger und verdächtig. Mein Schwulsein war gefährlich.
Kurz nach meinem 20. Geburtstag hatte ich ungeschützten Analverkehr, an den sich ungefähr 14 Tage später Symptome anschlossen, die typisch für eine akute HIV-Infektion waren. Die Gründe auf Schutz zu verzichten waren komplex, ich befand mich damals in einer schwierigen Lebenssituation. Die Angst half mir jedenfalls nicht. Da scheinbar alle davon ausgingen, dass es irgendwann passieren würde, musste ich auch niemandem etwas beweisen. Nicht mal mir selbst.
Am 20. August 2009 holte ich zum wiederholten Male das Ergebnis eines HIV-Tests ab. Ich wusste, dass ich es habe. Doch ich hatte keine Angst. Im Moment der Diagnose war ich durch den Wind. Mir war nicht klar, was das für mein Leben bedeutete. Gleichzeitig war es seltsam entlastend. Das, vor dem ich mich so extrem fürchtete, trat ein, aber die Sorge, ob es passieren würde, war hinfällig. Das Damoklesschwert verschwand. Die jahrelange Dauerbeschallung in mir endete schlagartig.
Viruslast unter der Nachweisgrenze
Es vergingen zwei Jahre, in denen ich verstand, dass man dank der medizinischen Entwicklung mit dem Virus normal weiter arbeiten und leben konnte. Irgendwann erfuhr ich, dass meine Viruslast unter der Nachweisgrenze sei. Dies bedeutete, dass ich zwar Viren in mir trug, man sie aufgrund ihrer geringen Anzahl aber nicht mehr im Labor bestimmen konnte. Fast beiläufig hieß es, dass ich das Virus somit auch nicht an andere übertragen konnte.
Schon damals war wissenschaftlich erwiesen, dass HIV unter wirksamer Therapie nicht übertragbar ist. Die Menge der Viren in Blut, Sperma und Vaginalsekret reicht dann schlicht nicht aus, um es weiterzugeben. Diese Information brachte mir eine unglaubliche Entlastung. Kurz nach der Diagnose wollte ich nie wieder Sex haben. Nun musste ich keine Angst mehr haben, jemanden mit HIV anzustecken. Kondome waren dennoch genauso Standard, wie extreme Hygiene und das Vermeiden des Kontakts mit Körperflüssigkeiten von anderen. Nie wieder wollte ich eine Geschlechtskrankheit bekommen.
“Wovon wirst du so richtig geil?”
Dann kam Nico. Beim Kaffee vor unserem ersten Sexdate wollten wir herauszufinden, ob die Chemie stimmte. Er war von Beginn an forsch. „Was macht dich besonders an? Wovon wirst du so richtig geil?“, fragte er noch im Café. Selten war ich in meinem bisherigen Leben so überfordert. Was mir Lust bereitete, wusste ich nicht. Aufgrund einer Schere im Kopf hatte ich nie darüber nachgedacht. Vieles am Sex war gefährlich und daher zu vermeiden. So kam ich gar nicht in den inneren Zustand, meine Phantasien überhaupt richtig zuzulassen.
Wir tranken einen Kaffee und ein paar andere Getränke und unterhielten uns bis spät in die Nacht. Zugegeben, erst redete nur er. Doch so ungefiltert und schamlos, wie er sprach, ermutigte er mich auch dazu. Ich erzählte davon, dass ich es mir geil vorstelle, in den Arsch gespritzt zu bekommen, weil dass so schlampig sei. Diese Rolle fand ich reizvoll. Beim Sonnenaufgang fickten wir ohne Gummi. Am nächsten Morgen stand mir meine Angst höchstwahrscheinlich ins Gesicht geschrieben. Nico zündete sich eine Kippe an und lächelte mir zu: „Es ist ok, dass das passiert ist!“ Ich hatte nie die Erlaubnis bekommen, beim Sex abzuschalten. Diese Begegnung war wichtig, weil ich nun weniger Angst vor Sex und Risiken hatte. Mir wurde eine andere, geile Perspektive auf Sex gezeigt.
Die Angst vor HIV, vor schwulem Sex und „verdächtigen“ Männern wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt. Ich konnte damals nichts dagegen tun. Sie hatte eine Macht, die alles überschattete. Meine früheren körperlichen Erlebnisse hatten mit vielem zu tun, aber als Sex würde ich diese verkrampften Begegnungen heute nicht mehr bezeichnen. Viele Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben, kennen das. Es ist ein unsichtbares Band, über das selten gesprochen wird, welches uns aber dennoch verbindet.
Lust, die sich ihren Weg sucht
Die Schallplatte der Fürsorglichkeit, die nach meinem Coming-out in Dauerschleife gespielt wurde, mache ich niemandem zum Vorwurf. Wie sollten sie wissen, dass es Schaden kann, wenn selbst Sexualaufklärung an Schulen bis heute oft sehr einseitig ist? Schwangerschaftsverhütung und Geschlechtskrankheiten sind wichtige Themen. Es ist jedoch unfair der Sexualität gegenüber, wenn man die geilen, schönen, lustvollen Seiten, die psychosoziale Bedürfnisse erfüllen, im Dunklen lässt. Die Menschen sind nebenbei bemerkt nicht blöd, sie merken das selbst. Die Lust sucht sich ihren Weg. Sexuelle Bildung sollte uns darauf vorbereiten. Angst ist kein guter Ratgeber, mir ihr alleine gelassen werden erst recht nicht, das zeigt jahrelange Prävention und ist breiter Konsens.
Absolute Sicherheit gibt es nicht und auf Geschlechtskrankheiten hat wohl kaum jemand Bock. Manche bekommen wahrscheinlich durch Kondome oder größtmögliche Kontrolle das nötige Gefühl, um Sex genießen zu können. Für mich passt das aber nicht. Heute vögle ich fast ausschließlich ohne Kondom. Natürlich habe ich seitdem noch einiges mehr über meine Lust gelernt. Danke an dieser Stelle, an meine zahlreichen Fickmentoren. Was mich daran geil macht, kann ich nicht genau sagen. Es wird etwas damit zu tun habe, dass ich dabei das Gefühl habe, mit meinem Sexpartner zu verschmelzen. Sex sollte jedoch auch nicht zu Ende reflektiert werden. Verkopft kann man bei anderen Hobbys sein. Ich empfehle Schach.
Sorglosigkeit ist ein toller Zustand
Meine Lösung hat aber wenig mit Ignoranz oder Leichtsinnigkeit zu tun. Ich habe ein Bewusstsein für Gefahren und Nebenwirkungen von Sex, auf gewisse Art und Weise Respekt vor ihnen und einen Umgang damit gefunden. Dazu gehören regelmäßige Checks und Behandlung, offenes Sprechen mit Sexpartnern bei einer Infektion oder Sensibilität für den eigenen Körper und Symptome. Es gibt keine rationalen Argumente, weshalb ich so lebe. Es sind das Bauchgefühl, die Lust und das Glück in mir, die sich richtig anfühlen.
Meine Angst, die mich bremst, unglücklich und unbefriedigt macht, habe ich verloren. Das ist auch gut so. Sorglosigkeit ist ein toller Zustand. Ich liebe es, mich gehen und fallen zu lassen und wie in einer Trance mit einem oder vielen anderen Menschen verbunden zu sein. Die Körper unterhalten sich, ohne dass die Köpfe sie steuern. Salopp gesagt: Wie geil ist es bitte, wenn man einfach nur ein Loch ist?
Foto: Spyros Rennt