Homonationalismus

Eine Collage von Alice Weidel (links) und Ernst Röhm (rechts) - Warum queere Personen rechtsextreme Parteien wählen

Warum queere Personen rechtsextreme Parteien wählen

Von Ernst Röhm bis Alice Weidel: Auch wenn der Großteil queerer Menschen nicht rechtsextrem wählt, finden sich doch immer wieder Gegenbeispiele. Warum? Was bringt queere Menschen dazu, rechtsextreme Parteien zu wählen oder sich diesen sogar anzuschließen? Unser Autor Mathias Foit hat seine Doktorarbeit über dieses Thema geschrieben und gibt hier Antworten.

Queerer Rechtsruck? In den letzten 10-15 Jahren haben Rechtspopulismus und Rechtsextremismus weltweit ein besonders starkes Wiederaufleben erlebt und etliche Teile der Gesellschaft durchdrungen. Immer wieder mal berichten die Medien in scheinbarer Fassungslosigkeit, dass sich LGBTQIA+ Personen – in der Theorie die weltoffenste, toleranteste gesellschaftliche Gruppe – rechtsextremen, nationalistischen Parteien zuwenden, sei es dem Rassemblement National in Frankreich oder der Alternative für Deutschland. Jene Parteien sind entweder unverhohlen queerfeindlich oder erklären – mehr oder minder offiziell – ihre Absicht, die Rechte verschiedener queerer Gruppen zu beschneiden.

So überraschend und widersprüchlich dieses Phänomen auch sein mag, es ist in der modernen Geschichte nicht neu. Im folgenden Beitrag werden sowohl historische als auch aktuelle Beispiele aus einigen Ländern – insbesondere Deutschland, aber auch den USA, Frankreich und Polen – für die Verflechtung von queerem Begehren sowie queerer Politik einerseits und Nationalismus sowie Rechtsextremismus andererseits angeführt. Dabei wird nicht nur der Frage nachgegangen, aus welchen Gründen queere Menschen ihre Stimme rechtsextremen Parteien geben, sondern auch, welche Konsequenzen dies für die heutige Politik hat und welche Lehren daraus gezogen werden können.

„Die warme Bruderschaft im Braunen Hause“: Der Zirkel um Ernst Röhm

Bereits in den frühen 1930ern, noch vor der Machtergreifung, wurde Ernst Röhm, Führer der Sturmabteilung (SA) und eine der wichtigsten Figuren der NSDAP, „Held“ einer breit angelegten Hetzkampagne: Er wurde als Homosexueller geoutet. Gerüchte über seine sexuellen „Exzesse“ hatten schon Jahre davor zirkuliert, außerdem war er Mitglied des Bundes für Menschenrecht (BfM), des größten nationalen Dachverbands der sogenannten „Freundschaftsvereine“ in der Weimarer Republik.

Bild von Ernst Röhm in SA-Uniform mit Hakenkreuzbinde um den Arm.
Ernst Röhm – Foto: Bundesarchiv, Bild 102-15282A / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

Als Homosexuelle waren auch andere SA-Funktionäre bekannt, wie der Oberpräsident und Gauleiter der Provinz Niederschlesien, Helmuth Brückner, sowie sein Stellvertreter und der Polizeipräsident von Breslau, Edmund Heines, von dessen „nächtlichen Orgien“ und „wüsten Gelagen mit jungen Männern“ der Schriftsteller Walter Tausk in seinem Tagebuch berichtete. Vor allem die sozialdemokratische Presse spottete über den Zwiespalt zwischen der offiziellen Parteilinie der NSDAP zu Homosexualität und der offenbaren Toleranz gegenüber Homosexuellen in den eigenen Reihen. Die Münchener Post sprach von einer „warmen Bruderschaft im Braunen Hause“.

Hitler wusste über die Homosexualität Röhms und dessen vieler Anhänger. Warum er sie so lange tolerierte, wie er dies mit der offiziellen Position der Nazi-Partei zur „widernatürlichen Unzucht“ vereinbarte sowie was der Hauptgrund für die Ende Juni, Anfang Juli 1934 von Hitler veranlasste Ermordung zahlreicher Parteigenossen, die in die Geschichte als der „Röhm-Putsch“ eingegangen ist, bleibt Gegenstand historischer Debatte. Sowohl Röhm als auch Heines fielen der blutigen Säuberungsaktion zum Opfer.

Dank zahlreichen Forschungen wissen wir heute, dass der mit solcher Vehemenz geführte anti-homosexuelle Kreuzzug kein nebensächliches Thema, sondern ein zentraler Bestandteil der konservativen Revolution der Nazis bildete. So ist es durchaus möglich, dass die Röhm-Morde tatsächlich in erster Linie der Zerschlagung einer als vermeintlich gefährlichen, zu Verschwörungen gegen den Staat tendierenden Clique von Homosexuellen dienten. Andererseits ist auch denkbar, dass Hitler – wie viele Historiker*innen meinen – auf diese Weise den in seinen Augen größten Konkurrenten und dessen Kreis aus dem Weg der Alleinherrschaft in der NSDAP räumen wollte.

Die Wurzeln des queeren Rechtsextremismus

Annäherungsversuche an die Nazis gab es auch von Seiten der damals aktiven „Homosexuellenbewegung“ in der Person des Vorsitzenden des bereits erwähnten Bundes für Menschenrecht, Friedrich Radszuweit. Im August 1931 schrieb er einen offenen – und letztlich unbeantworteten – Brief an Hitler persönlich, in dem er den NSDAP-Chef zur Revision seiner Position zu Homosexualität aufforderte. Bemängelt hat Radszuweit auch die Schmutzkampagne gegen Röhm, wobei sich seine Kritik im Kern mehr gegen die Instrumentalisierung der Homosexualität als politische Waffe richtete, als dass er den SA-Führer in Schutz nehmen wollte.

Inwieweit Radszuweits Anbiederung an die Nazis von seinem vermeintlichen Wertewandel beziehungsweise Opportunismus zeugt oder als verzweifelter Versuch, mit dem Teufel zu verhandeln, zu werten ist, wird bis heute kontrovers diskutiert. Fakt ist, dass sich bereits Ende der 1920er Jahre circa 30% der BfM-Mitgliedschaft als Anhänger*innen der Nazipartei erklärt hatten. Ob Radszuweit es wollte oder nicht, die wachsende Unterstützung für die NSDAP, auch in den eigenen Reihen des BfM, war nicht zu übersehen.

Generell waren Konservatismus, Nationalismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in der Geschichte der ersten deutschen „Homosexuellenbewegung“ keineswegs Randerscheinungen. Magnus Hirschfeld, der gemeinhin als geistiger Vater und inoffizieller Anführer der Bewegung gefeiert wird, gehörte zu den lautstärksten Verfechtern des Ersten Weltkriegs und veröffentlichte zwei Schriften (eine davon mit dem bezeichnenden Titel „Warum hassen uns die Völker?“), die den deutschen Imperialismus verteidigten. Erst in den späteren Kriegsjahren wandte er sich dem Pazifismus und Internationalismus zu. Adolf Brand, Vorsitzender der Gemeinschaft der Eigenen (GdE), die die Männer- und „Knabenliebe“ feierte, und informeller Sprecher des Kreises der sogenannten „Maskulinisten“, war ein eingefleischter Antifeminist, Antisemit sowie ein unerbittlicher Kritiker der Weimarer Republik und Befürworter einer antidemokratischen, erzkonservativen Politik.

Das Weidel-Paradox: AfD und Homonationalismus

Die heutige Verflechtung zwischen LGBTQIA+ und Nationalismus wird oft als „Homonationalismus“ bezeichnet. Dabei geht es um die Instrumentalisierung von Homosexualität für nationalistische, rassistische Zwecke und um das Ausspielen von queeren Gruppen (meistens cis-männlichen, weißen Schwulen) gegen die „Anderen“. So versuchen zum Beispiel AfD-Politiker*innen, die Angst der Ersteren vor den Letzteren zu schüren und damit Wähler*innenstimmen zu gewinnen, indem sie insbesondere auf das Fremdbild des fundamentalistischen, homophoben, meist muslimischen Einwanderers zurückgreifen.

AfD Wahlplakat aus 2016. Zwei Männer schauen in die Kamera. Daneben steht: "Mein Partner und ich legen keinen Wert auf die Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern, für die unsere Liebe eine Todsünde ist.
AfD-Plakat von 2016. Quelle: AfD Landesverband Berlin

Das führt zu einem noch größeren Spagat als bei den Nazis: Die AfD stellt sich als vermeintlicher Beschützer einer gesellschaftlichen Gruppe dar, die einige Parteimitglieder im Gefängnis sehen wollen und andere für die angebliche Sexualisierung von Kindern verantwortlich machen. Ein Paradebeispiel für diesen Widerspruch: Die Bundessprecherin und Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, ist lesbisch und lebt mit einer aus Sri Lanka stammenden Filmproduzentin zusammen, mit der sie auch zwei Kinder großzieht.

Schon vor der Bundestagswahl 2017 gründete sich innerhalb der Partei die Interessengemeinschaft „Homosexuelle in der AfD“, später „Alternative Homosexuelle“. Paradox hin oder her, diese Strategie scheint zumindest teilweise zu fruchten. Wie die jüngste und in den Medien breit kommentierte Umfrage des schwulen Datingportals Romeo.com und des Magazins „Männer“ ergab, erklärten 22% der Nutzer von Romeo, bei der Europawahl 2024 die AfD wählen zu wollen.

Homonationalismus „Around the World“

Beispiele für Homonationalismus gibt es auf der ganzen Welt. 2016 entstand in den USA die islamfeindliche, „White Supremacy“ predigende und transphobe Vereinigung „Gays for Trump“. Bereits 2005 hat der Historiker Paul Robinson in seinem Buch Queer Wars beschrieben, wie der Konservatismus seit Beginn der „Gay Liberation“-Bewegung die LGBTQ+ Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten spaltet. Auch in Frankreich und den Niederlanden gewinnen die Rechtsextremen unter vielen LGBTQIA+ Personen an Unterstützung. Schon in der Präsidentschaftswahl 2017 war Marine Le Pen vor allem für weiße, cis-männliche Homosexuelle eine zumutbare politische Alternative.

Interessanterweise muss der Rückgriff auf Patriotismus oder Nationalismus durch queere Menschen nicht unbedingt islamophob oder rassistisch motiviert sein. In Polen zum Beispiel hat die Kontroverse um die Darstellung des Staatswappens und der Nationalflagge vor einem Regenbogenhintergrund auf einigen CSDs im Jahr 2018 eine Debatte auch innerhalb der dortigen LGBTQIA+ Gemeinschaft ausgelöst. Viele sahen darin eine wirksame politische Strategie zur Anerkennung der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft. Andere grenzten sich aufgrund der institutionellen Queerphobie der damaligen Regierung stark vom Nationalstolz ab.

Die wichtigste Frage: warum?

Die Gründe für den scheinbaren Widerspruch zwischen emanzipatorischen Bestrebungen und rechtsextremer, nationalistischer und sehr konservativer Politik sind natürlich je nach Fall und Kontext unterschiedlich.

Im Deutschen Kaiserreich beispielsweise war die gesamte deutsche Gesellschaft stark nationalistisch und konservativ geprägt, was mit der imperialen und militaristischen Grundausrichtung des Staates einherging, schließlich waren es auch die europäischen Nationalismen, die zum Ersten Weltkrieg führten.

In der Weimarer Republik spielten zudem weit verbreitete nationale Ressentiments, die Demütigung des Verlorenen und die Sehnsucht nach der alten Ordnung eine Rolle. Hinzu kam, dass queere Menschen, denen immer wieder das Bürgerrecht abgesprochen und verräterische Tendenzen unterstellt wurden, um ihre Anerkennung als respektable, pflichtbewusste und loyale Staatsbürger*innen kämpften. Eine ähnliche Motivation – wenn auch in einem ganz anderen, weitgehend einfacheren soziopolitischen und rechtlichen Kontext – treibt viele LGBTQIA+ im heutigen Polen an.

Bezeichnenderweise sind es vorwiegend cisgeschlechtliche Männer, die nach wie vor die politische Avantgarde des Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Nationalismus bilden. Wundern dürfte es kaum, schließlich wird ihnen seit jeher Männlichkeit und die damit assoziierten Eigenschaften wie Stärke, Entschlossenheit und Tüchtigkeit abgesprochen. Sich als Patriot oder gar Nationalist zu bekennen, bedeutet häufig, sich als „richtiger“ Mann zu behaupten.

Wie gezeigt wurde, ist ein gemeinsamer Nenner der verschiedenen Formen und nationalen Variationen des heutigen Homonationalismus häufig die Islamophobie. Rechtsextreme Parteien nutzen die Ängste einiger LGBTQIA+ Personen zynisch aus, um damit Stimmen zu gewinnen und gegen die Zuwanderung von Menschen – darunter auch queeren, die in Deutschland Zuflucht finden könnten – aus muslimisch geprägten Ländern zu plädieren.

Und was nun? Konsequenzen für die Politik

Der Homonationalismus verdeutlicht, dass die heutzutage – aus gutem Grund – hinterfragten gesellschaftlichen Konzepte wie Geschlecht oder Nation(alität) auch für viele LGBTQIA+ Menschen immer noch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben. Das von Teilen der Gesellschaft erwünschte Loswerden dieser Kategorien wird damit zu einer größeren Herausforderung als gedacht und erfordert kreative Ansätze.

Außerdem zeigt der Homonationalismus die Wichtigkeit der Einbindung von Antirassismus in queere, emanzipatorische Politik und Bildung. Auch in der LGBTQIA+ Gemeinschaft sind Stereotype und Vorurteile gegenüber „Fremden“ weit verbreitet. Geflüchtete, aber auch Queers of Colour sind von dem Rechtstruck der letzten Jahre besonders betroffen, weshalb gerade ihnen die Solidarität der gesamten Community gehört.

Die Widersprüchlichkeit und der Zynismus rechtsextremer Parteien wie der AfD im Umgang mit Homosexualität und geschlechtlicher Vielfalt liegt auf der Hand. Was sich viele queere Menschen als eine Verbesserung erhoffen, kann nur wie vor fast einhundert Jahren enden – mit Enttäuschung und Elend.

 


 

Mehr zum Thema gibt es auch im Artikel „Queere Nazis“ des Siegessäule-Magazins.

 

Bibliographie

  • Bauer, Heike.The Hirschfeld Archives: Violence, Death, and Modern Queer Culture.” Philadelphia, Pennsylvania: Temple UP, 2017.
  • Bruns, Claudia. „Politik des Eros: Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934).“ Köln: Böhlau Verlag, 2008.
  • Foit, Mathias. “Queer Urbanisms in Wilhelmine and Weimar Germany: Of Towns and Villages.” Cham, Schweiz: Palgrave Macmillan, 2023.
  • Marhoefer, Laurie. “Sex and the Weimar Republic: German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis.” Toronto: University of Toronto Press, 2015.
  • Micheler, Stefan. “Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik.” Stefan Micheler Homepage. August 1, 2008. www.StefanMicheler.de/zvlggbm/stm_zvlggbm.pdf.
  • Vendrell, Javier Samper. “The Seduction of Youth: Print Culture and Homosexual Rights in the Weimar Republic.” Toronto: University of Toronto Press, 2020.
  • Wolfert, Raimund. “Auf den Spuren der ‘Invertierten’ im Breslau der zwanziger und dreißiger Jahre.Invertito– Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 9 (2007): 93–135.
  • Zinn, Alexander. „Aus dem Volkskörper entfernt? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.“ Frankfurt: Campus Verlag, 2018.

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