Scham und Queer Pride

Scham ist ein zentraler Aspekt vieler queerer Biografien. Zum Pride Month stellt unser Autor die Frage: Scham raus, Pride rein? Wie geht das?

Empathy can’t exist where shame does.

Renée Brown

„Wo es Scham gibt, kann es keine Empathie geben.“ Was ist eigentlich Scham, woher kommt sie? Bestimmt nicht von selbst. Nein, wir werden „be-schämt“. Die negativen Reaktionen unserer sozialen Umwelt auf alles, was nicht cis-gender- und heterokonform ist prasseln in Form von Beschämung und Erniedrigung auf uns ein. Wenn wir beschämt und erniedrigt werden, dann tut das weh, arg weh. Und um diesen Schmerz abzustellen, ändern wir unser Verhalten, unser innerstes authentisches Selbst. Alles, damit die schmerzhafte Beschämung und Erniedrigung aufhört.

Dabei wollen wir einfach nur da sein dürfen, willkommen sein, so wie wir sind. Es sieht dann so aus, als ginge das nur, wenn wir uns verstellen, zurückstutzen, anpassen. Und das einzige uns bekannte Mittel, um so etwas Starkes wie unsere eigene Identität, den Ausdruck unserer eigenen Person zu unterdrücken und umzuformen, ist Beschämung und Erniedrigung. Wir haben die Stimmen, die Gesten, die Drohungen im eigenen Kopf. Wir haben den Selbsthass, die Negativität, die Scham verinnerlicht.

Gleichzeitig sehnen wir uns nach Empathie, nach Verständnis dafür, was es bedeutet, in dieser Welt LSBTQIA+ zu sein. Wie es war, unseren persönlichen Weg zu gehen. Diese Wege waren für jede*n von uns unterschiedlich, und auf unterschiedliche Weise hart. Auch wenn er nach den tausenden Malen, die RuPaul diesen Satz schon gesagt hat abgedroschen klingt, ist er immer noch genauso wahr:

If you can’t love yourself,
how in the hell are you going to love somebody else?

RuPaul

„Wenn du dich nicht selbst lieben kannst, wie zum Teufel willst du dann jemanden anders lieben?“ Schaue ich so viel Drag Race, damit ich diesen Satz hören darf? Ich habe ihn schon dutzendmal gehört, und jedes Mal trifft er mich trotzdem wieder ins Herz, wenn ich ihn denn reinlasse. Ach ja, denke ich, stimmt, hatte ich schon wieder vergessen. Hatte mich doch wieder irgendwie selbst schlecht gemacht, im eigenen Kopf. Die Scham sitzt tief.

Ein kleiner Blick zurück …


Müsste doch jetzt mal gut sein, vorbei sein. Ich hatte doch mein erkämpftes Coming Out. Auch wenn ich schon 28 war (ist das ein Zeichen dafür, dass es wohl hart gewesen sein muss, davor?). Ich hab‘ mich doch dann auch gleich ehrenamtlich engagiert in der Community – das war 1994, es gab so viel zu tun, Massageprojekt für Menschen mit AIDS (da war es noch AIDS), die kaum noch jemand berührt hat, Coming-Out-Selbsthilfegruppen, queeres Festival.

Dann hab‘ ich mir entschieden mein ganz „normales“ schwules Leben aufgebaut. Beim dritten Anlauf endlich eine solide Partnerschaft: den nehm‘ ich und halt ihn fest! Schwule Freunde besucht, gegenseitig – Dinner Partys, und natürlich meine Lieblingslesben in der Wahlfamilie. Vielleicht ein gemeinsames Kind wie David&Michael mit Patrizia&Claire? Nee, das schaff ich nicht. Aber `nen Hund, ja, und gemeinsam renovieren, der Nestbau, jedes Wochenende! Kaum noch in der Szene unterwegs, aber wenigstens einmal im Jahr beim Pride-Umzug dabei, und beim queeren Picknick im Stadtpark. Selbstbewusst reisen als schwules Paar: Ha! Natürlich wollen wir ein Doppelbett.

Dann haben sie es nach und nach endlich gemacht, wonach ich mich als Teen unterbewusst gesehnt hatte: sie kamen „raus“. Schauspieler*innen und Musiker*innen, ein paar auch in der Politik, einzelne sogar im Sport. Antidiskriminierungsgesetze am Wunschferienziel– jetzt können wir ja auch mal nach sosundso fahren, da ist’s jetzt auch OK.

Und jetzt noch die eingetragene Partnerschaft oder sogar Ehe – gesamtgesellschaftliche Reinwaschung der historischen Sünden – ja gut, aber wir nur wegen der Steuer, Krankenhaus und so. Für unsere Liebe brauchen wir das nicht, die haben wir uns schon längst selbst zusammengeschmiedet.

Ich bin stolz auf mein schwules Leben. Ich bin zwar kein*e Vorkämpfer*in, kein Stein im Schuh der Mächtigen, aber das alles war trotzdem gegen den Strom geschwommen. Also alles Stolz und keine Scham mehr? Gar keine?

Also alles Stolz und keine Scham mehr? Gar keine?

Zieh ich mich so an, wie ich’s wirklich gern tun würde? Wie das Kind mit 8 oder 9, das zu seiner in den Ferien am Seekiosk vom Taschengeld erstandenen rot-weißen Kapitänsmütze unbedingt noch ein knallrotes Hemd und eine persilweiße Jeans haben wollte. Und die Großen es unbeholfen und mit Sorgenfalten auf der Stirn wieder auf ihre Schiene bugsiert haben. „Nee du, lieber nicht, ist doch kein Fasching jetzt, du willst doch nicht ausgelacht werden, oder?“ Ich weiß nicht, wie sehr das Kind sich heute noch im Zaum hält, es ist schon eine so alte Gewohnheit.

Und misch‘ ich mich denn konsequent ein, wenn jemand sexistisch, rassistisch, able-istisch, oder gar LSBTQIA+-feindlich angemacht wird? Ertappe ich mich nicht stattdessen sogar bei Gedanken, die Person hätte ja hier in der S-Bahn nicht ganz so in your face queer auftreten müssen? Was kann diese Zurückhaltung, dieses Fremdschämen anderes sein als das kleine Teufel*inchen der Restscham, das mir immer noch im Nacken sitzt?


Pride rein, Scham raus?

Scham ist was anderes als Schuld. Schuld heißt, du hättest das nicht tun dürfen. Scham geht an die Substanz. Scham heißt, du darfst das nicht sein. Und das heißt, du darfst etwas nicht, über das du keinen Einfluss hast. Du bist gefangen, denn du bist wie du bist, aber darfst es nicht sein. Eine Scham-Sackgasse.

Und wo geht’s raus? Wie bei jeder Sackgasse nur mit umdrehen und sich stellen. Also Queer Pride als Gegengift für Scham, aber wie geht das? Wenn ich über die Schwelle trete in einen queeren Raum, einen sicheren Raum, dann passiert was mit mir. Egal ob es ein Online-Chat mit einer Person aus meiner LSBTQIA+ Wahlfamilie ist oder ein Haufen echter, warmer, queerer Körper vor, hinter und neben mir, auf einer Demo gegen Rechts oder beim Feiern. Irgendwas fällt von mir ab. Ich bewege mich anders, ich rede anders, ich lasse etwas zu in mir. Besonders wenn ich unter Leuten bin, die einen Teil meines Wegs, meines Rauskommens aus der Scham mit mir gegangen sind.

Besonders wenn schlimme Sachen passieren, wie körperliche Angriffe und Morde gegen eine*n von uns, wenn sie uns einteilen wollen in akzeptable und inakzeptable queere Menschen, wie bei der aktuellen Anti-Trans-Stimmungsmache, dann heißt das, wir brauchen uns wieder mehr. Dann müssen wir uns wieder tiefer in die Augen schauen und sehen wer wir sind, und uns zurufen „Wir halten zusammen, wir gehen keinen Schritt zurück, ich steh bei dir und du bei mir. Ich verlass‘ mich auf dich und du dich auf mich.“ Wenn das passiert, dann hat Scham erstmal keine Chance. Dazu brauchen wir unsere queeren Räume, in denen wir uns begegnen, in denen wir diesen Schwur erneuern können. Aber auch das reicht nicht ganz.

Vor lauter Glück und Ungestüm über die eigene Selbstfindung stolpern wir. Weil wir vergessen, dass wir noch Gepäck dabei haben. Wir sind alle in dieselbe cis-und heteronormative, sexistische, rassistische, able-istische Soße getaucht worden. Besonders mit der Scham über die eigene „Weiblichkeit“, die wir nach den Erniedrigungen und Drohungen als junge Menschen verinnerlicht haben, haben wir uns als schwule Männer nicht genug auseinandergesetzt. Sie steckt verzerrt und verworren in schwulen Stereotypen und Konventionen. Warum müssen wir eigentlich extra darauf hinweisen, dass Tunte genauso gut ist wie Leder, warum musste sich das Label Power-Bottom überhaupt erst entwickeln? Wir murksen doch immer noch in den alten Hierarchien rum. „No femboys, no Asians“ bedeutet dann doch auch „no ME“!

Es gibt auch eine interne Homonormativität, in die sich jede Person einsortieren soll, wenn sie dazugehören will. Wenn sie das nicht tut, wird sie dafür beschämt.

Ich denke es gibt nicht nur Heteronormativität, also den Zwang, sich entweder den Lebensformen der Heterowelt zu orientieren, oder anders, außen vor, getrennt, komisch, besonders etc. zu sein. Es gibt auch eine interne Homonormativität, die vermittelt, dass es bestimmte Formen schwulen Seins und schwulen Lebens gibt, in die sich jede Person einsortieren soll, wenn sie dazugehören will. Wenn sie das nicht tut, wird sie dafür beschämt. Dann ist sie auch wieder anders, draußen, getrennt, komisch, besonders.

Scham isoliert. Jemanden beschämen bedeutet, die Person herauszustellen, aus dem sozialen Verbund zu lösen, sie vor anderen „vorzuführen“. Das ist besonders erniedrigend und deswegen so schmerzhaft, weil ihr dabei der Schutz der Verbundenheit mit anderen gewaltsam entrissen wird.

Deswegen will ich Queer Pride nicht nur für mich, als Gegengift für meine eigene Scham, sondern auch für dich, und für dich, und für dich auch. Ich will nicht nur stolz auf mich sein, auf meinen Weg. Ich will stolz darauf sein, dass du dich nicht versteckst, gerade weil du so anders queer bist als ich. Ich will mir vorstellen, was du überwinden musstest, was du immer noch täglich überwinden musst, um du selbst zu sein.

Vielleicht bist du oft die einzige Person mit der dunkleren Hautfarbe. Vielleicht wirst du deswegen entweder gemieden oder fetischisiert. Vielleicht musst du dir Frauenwitze anhören. Vielleicht wirst du falsch gegendert. Vielleicht kommst du gar nicht erst rein in den „sicheren Raum“ in deinem Rollstuhl, oder du kannst meine Lippen nicht lesen, weil ich hinter dem Bierglas rumnuschele. Vielleicht bist du oft traurig und hast Angst, traust dich nicht vor die Tür. Erst wenn ich das erkenne, wenn ich dich danach gefragt habe, womit du zu kämpfen hast, dann macht Community Sinn. Dann wird mir erst warm ums Herz. Dann erst fühle ich mich so richtig verbunden mit dir, dann spüre ich erst, wie sehr ich dich brauche. Dass ich nicht schamlos sein kann, wenn du nicht auch schamlos sein kannst.

Erst wenn ich das erkenne, wenn ich dich danach gefragt habe, womit du zu kämpfen hast, dann macht Community Sinn.

Also, ist Queer Pride das Gegengift für Scham? Ich denke schon. Mit meinem Stolz, dem Bewusstsein meiner eigenen Geschichte, meiner eigenen täglichen Kämpfe mit der Scham fängt es an. Aber noch viel wichtiger ist mein Stolz auf dich. Mein Stolz darauf, dass ich dich kenne. Dass ich deine Geschichte kenne. Dass ich weiß, was du überwunden hast, und woran du gescheitert bist. Dass ich weiß, dass du genau deshalb hier bist und weiter darum kämpfst, du selbst zu sein. Wenn ich dich stärken kann, dir zujubeln kann, dann hat meine eigene Scham keine Chance, dann schaue ich nicht auf sie, dann hat sie keinen Platz.

Nutzen wir also den Raum, den wir uns in der Pride-Saison 2024 nehmen und mit unserem Stolz füllen. Frag mich, worauf ich stolz bin, was ich überwunden habe, um hier mit dir feiern zu können. Frag mich, was ich von dir brauche, um hier schamlos ich selbst sein zu können. Dann feiern wir uns. Nicht nur, weil es Sommer ist und wir es jedes Jahr tun, sondern weil wir jetzt voneinander wissen, was es hier wirklich zu feiern gibt.

Ich bin stolz auf dich.

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